Wann wurde das Neue Testament verfaßt?

GN-Interview mit Carsten Peter Thiede

Von John Ross Schroeder

Fragmente eines knapp zweitausend Jahre alten Papyrus, die in der Bibliothek des Magdalen College an der Universität Oxford in England aufbewahrt werden, sorgen in der Welt der Bibelwissenschaft für Aufsehen. Denn einige Forscher sind der Meinung, daß diese uralten Bruchstücke die ältesten bekannten Handschriftenreste des Neuen Testamentes sind und durch ihr Alter das Matthäusevangelium als Augenzeugenbericht ausweisen.

Im Bibliothekskatalog mit dem Siegel Magdalen GR 17 gekennzeichnet, könnte diese Entdeckung die Sicht des Neuen Testamentes, die von einigen Gelehrten vertreten wird, verändern. Da die verwendete Schrift der Praxis entspricht, die vermutlich im Jahrhundert vor Christus einsetzte und in der Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts aufhörte, vertreten manche Bibelwissenschaftler den Standpunkt, Teile des Neuen Testamentes seien viel früher geschrieben worden, als bisher von der modernen, bibelkritischen Forschung angenommen. Wenn sie damit recht haben, kommt man um die Schlußfolgerung nicht herum, daß die Verfasser der vier Evangelien entweder Jesus Christus persönlich kannten oder wenigstens Kontakt mit Augenzeugen seines Wirkens hatten.

Diese wichtige Erkenntnis wurde 1994 vom deutschen Papyrologen Carsten Peter Thiede gewonnen. Professor Thiede leitet das Institut für Wissenschaftstheoretische Grundlagenforschung in Paderborn und lehrt seit 1978 an der Universität Genf. Seine kontroversen Thesen machte Professor Thiede einer breiten Öffentlichkeit in dem Buch Der Jesus Papyrus (London, 1996) bekannt. Da es ein Anliegen der Zeitschrift Gute Nachrichten ist, das Vertrauen der Menschen in die Zuverlässigkeit der Bibel wiederherzustellen, bringen wir nachstehend den Wortlaut eines Gesprächs mit Professor Thiede.

GN: In Ihrem Buch Der Jesus Papyrus befassen Sie sich mit der Zuverlässigkeit und Echtheit der Gründungsdokumente des Christentums. Haben Ihre Entdeckungen zum Nachweis dafür beigetragen, daß das Matthäusevangelium erst 20 oder 30 Jahre nach der Kreuzigung Christi geschrieben wurde?

CPT: So ist es. Die Neudatierung jener Papyrusfragmente beweist sogar, daß die Niederschrift des Matthäusevangeliums einige Zeit vor 65 n. Chr. geschehen sein muß. Denn die Fragmente selbst sind Kopien. Sie stammen nämlich aus einem Kodex [einem Buch mit getrennten Seiten]. Bücher wurden damals aber immer zuerst auf Schriftrollen geschrieben. Deswegen muß es schon Rollen gegeben haben, von denen dieser Kodex abgeschrieben wurde, und wir können davon ausgehen, daß sie das ursprüngliche Matthäusevangelium enthielten. Also können wir mit Bestimmtheit sagen, daß das ursprüngliche Matthäusevangelium in einer Zeit vor 65 n. Chr. geschrieben wurde.

GN: Halten Sie das Neue Testament im wesentlichen für einen Augenzeugenbericht, im Gegensatz zur Niederschrift einer mündlichen Tradition, die im zweiten Jahrhundert n. Chr. vorgenommen wurde?

CPT: Daß die Evangelien auf Augenzeugenberichte zurückgehen, steht außer Zweifel, wie auch immer man die verschiedenen Papyri einordnet. Dafür sprechen zahlreiche Gründe, die mit Geschichte, Textkritik und Literaturwissenschaft zu tun haben.

Auf der anderen Seite würde kein Historiker heute behaupten wollen, alle vier Evangelien seien von Augenzeugen abgefaßt worden. Noch nicht einmal die frühesten Kirchenhistoriker haben sich in diesem Sinne geäußert. So galt der Verfasser des Markusevangeliums – nach einer sehr frühen, zuverlässigen Überlieferung – als Begleiter bzw. Jünger des Petrus, der seinerseits tatsächlich Augenzeuge war. Das Markusevangelium ist also sozusagen ein Augenzeugenbericht aus zweiter Hand. Und Lukas – sowohl in seinem Evangelium als auch in der Apostelgeschichte – teilt uns mit, er habe seine Erzählungen auf Augenzeugenberichte gegründet. Er hat Augenzeugen befragt und schriftliche Berichte über die Aussagen von Augenzeugen gesammelt und das alles zu seinem Evangelium verarbeitet.

Nur zwei Evangelien können im engeren Sinn Augenzeugenberichte sein, nämlich die von Matthäus und Johannes. Denn nach einer zuverlässigen Überlieferung gilt Matthäus als der Jünger Levi Matthäus, und der Verfasser des Johannesevangeliums behauptet, vor allem am Ende seiner Schrift, Augenzeuge gewesen zu sein.

Somit können wir zumindest davon ausgehen, daß alle vier Evangelien und die Apostelgeschichte zu einer Zeit geschrieben wurden, zu der Augenzeugen noch lebten und in der Lage gewesen wären, die Texte zu kommentieren, zu verbessern, zu widerlegen und zu beglaubigen.

GN: Welche Rolle spielt die Wissenschaft der Papyrologie bei der Bestimmung der Echtheit und des Alters biblischer Texte?

CPT: Wenn es um die Bewahrung der frühesten Zeugnisse geht, spielt die Papyrologie eine wesentliche Rolle. Denn die ältesten Schriften des Neuen Testamentes, und übrigens auch der römischen und griechischen Literatur, sind auf Papyrus erhalten. Es ist also sehr wichtig, daß Papyri entdeckt, eingeordnet, ausgewertet, übersetzt und den Textkritikern – in unserem Fall der neutestamentlichen Forschung – zur Verfügung gestellt werden.

Von daher gesehen leistet die Papyrologie wesentliche Dienste bei Studien zur Entstehung und Datierung des Neuen Testamentes. Auf der anderen Seite könnte man neutestamentliche Studien auch ohne die Papyrologie auf ihre Geschichtlichkeit untersuchen. Die Papyrologie trägt zwar zur Erforschung des Neuen Testamentes bei, aber deswegen zu behaupten, man könne nicht auf sie verzichten, wäre etwas übertrieben.

GN: Würden Sie sagen, daß der Jesus-Papyrus einen schlagenden Beweis für die Zuverlässigkeit der Evangelien und der sie umgebenden Traditionen darstellt?

CPT: In der Tat. Dieser Fund ist eine wichtige Ergänzung des archäologischen und geschichtlichen Materials, das wir schon besitzen. Wenn manche diesen Papyrus den „Jesus-Papyrus“ nennen, liegt das daran, daß diese drei winzigen Fetzen nicht weniger als vier verschiedene Aussagen Jesu enthalten und seinen Namen sogar siebenmal erwähnen. Unbestreitbar ist, daß sie an den Grundfesten der neutestamentlichen Forschung rütteln, sofern die sich mit der Entstehung der Evangelien und mit ihrer Geschichtlichkeit befaßt.

GN: Wie können ein paar Verse aus dem griechischen Text des Matthäusevangeliums beweisen, daß das Buch zu Lebzeiten von Augenzeugen geschrieben wurde?

CPT: Dieses Urteil hängt von der Datierung und vom Inhalt der Fragmente ab. Die meisten Menschen würden vielleicht ihr Hauptaugenmerk auf die Datierung richten, aber eigentlich ist der Inhalt wichtiger. Die drei Fragmente enthalten Passagen aus dem 26. Kapitel des Matthäusevangeliums. Man sollte auch wissen, daß zwei weitere Fragmente, die ursprünglich zum selben Kodex – sprich, zum selben Buch – gehörten, noch erhalten sind. Sie werden in Barcelona verwahrt und enthalten Abschnitte aus dem dritten und fünften Kapitel des Matthäusevangeliums. Alle fünf Fragmente wurden in Ägypten gefunden, aber heute befinden sich zwei in Barcelona und drei in Oxford.

Die Fragmente in Barcelona sind nicht so wichtig wie die Fragmente in Oxford, weil sie weniger Text enthalten. Entscheidend ist aber, daß sie aus dem dritten und fünften Kapitel des Matthäusevangeliums stammen. Die Tatsache, daß wir Fragmente aus dem dritten, fünften und sechsundzwanzigsten Kapitel besitzen, zeigt, daß sie nicht von einer frühen Quelle des Evangeliums, sondern von einem vollständigen, vollendeten Evangeliumstext stammen.

Wenn wir damit in der Lage sind, einen Kodex, das heißt eine Kopie eines vollendeten Evangeliums in die Mitte der sechziger Jahre zu datieren, muß die Urschrift noch früher, nämlich noch in der Zeit der Augenzeugen, entstanden sein.

GN: Berechtigen Ihre Entdeckungen zur Annahme, der Jesus des Glaubens, wie er in den Evangelien dargestellt wird, sei mit dem Jesus, der tatsächlich gelebt hat, identisch? Mit anderen Worten, sind die vier Evangelien als geschichtliche Quellen zuverlässig?

CPT: Entgegen der heute herrschenden Meinung wollen die Evangelien als geschichtliche Dokumente verstanden werden. Lukas gibt das ganz eindeutig zu verstehen, und die anderen Evangelisten deuten es zumindest an.

Der Zweck der Evangelien ist ja in erster Linie, die Geschichte vom historischen Jesus zu erzählen. In seiner Einleitung schreibt Lukas sinngemäß: „Theophilus, du bist schon gläubig und machst deine ersten Gehversuche im Glauben. Damit du für deinen Glauben auch eine feste geschichtliche Grundlage hast, schreibe ich dir dieses Evangelium.“ Glaubensfragen sind zwar Bestandteil der Evangelien, doch die Geschichte von Jesus und seinen Taten gilt als ebenso wichtig.

Jedes Evangelium, wie Lukas das in seiner Einleitung deutlich macht, ist die Aussage eines Historikers, der seinen Bericht in der Tradition klassischer Geschichtsschreibung sieht. Technik und Haltung entsprechen den Bräuchen der griechischen und römischen Historiker der damaligen Zeit. Es geht um die Vermittlung einer Botschaft, die in ihren geschichtlichen Kontext eingebettet ist.

Tacitus, zum Beispiel, ist ein römischer Geschichtsschreiber, der sowohl Jesus als auch Pontius Pilatus erwähnt. Zu seinen Schöpfungen gehört die Geschichte der Römer in Großbritannien. Das Buch nennt der Autor Agricola, nach dem Namen seines Schwiegervaters, denn es dreht sich hauptsächlich um die Ruhmestaten dieses Mannes, der römischer Statthalter in Großbritannien war. Obwohl das Buch eine Art Lobeshymne auf den Schwiegervater des Verfassers ist, käme heute kein Altertumswissenschaftler auf die Idee, den Wert des Buches als Geschichtswerk in Frage zu stellen.

Die Verbindung einer Botschaft – in diesem Fall der Botschaft von der Größe eines Sippengenossen – mit nüchterner Volksgeschichte galt zu der damaligen Zeit keineswegs als Widerspruch und bildet das Muster, nach dem die vier Evangelien gestrickt sind.

GN: Wenn man von der Papyrologie absieht, welche weiteren Argumente sprechen dafür, daß das Matthäusevangelium vor dem Sturz Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. geschrieben wurde?

CPT: Der Sturz Jerusalems mit der Vernichtung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. markiert in der Tat eine Wasserscheide der Geschichte. Es ist aber anzunehmen, daß die Urgemeinde bereits im Jahre 66 n. Chr. die Stadt verlassen hatte. Der Leiter der Jerusalemer Gemeinde, Jakobus, Bruder des Herrn, war sogar schon im Jahre 62 n. Chr. zu Tode gesteinigt worden.

Jeder Historiker würde gelten lassen, daß die Apostelgeschichte des Lukas vor 62 n. Chr. geschrieben wurde. Denn diese Datierung beruht auf ganz einfacher geschichtlicher Logik. Warum sie aber bei manchen Theologen auf Widerspruch stößt, ist für mich unbegreiflich. Ein Faden, der sich durch die Apostelgeschichte zieht, ist das Märtyrertum und die Bereitschaft von Menschen, für den Herrn zu sterben, zuerst Jesus selbst, dann Stephanus, der im Jahre 35 hingerichtet wurde.

Ein weiteres Ereignis, das die Urgemeinde zutiefst erschütterte, war die Steinigung des Jakobus im Jahre 62. Um diesen Vorfall und seine Datierung wissen wir durch den jüdischen Historiker Josephus, der insofern in diesem Punkt völlig glaubwürdig ist, als er das Christentum nicht mit aller Macht als richtig bestätigen wollte. Etwas später, vermutlich um 64-65 und spätestens im Jahre 67, wurden Petrus und Paulus hingerichtet. Das geschah nach dem Großbrand in der Stadt Rom.

Nun, keiner dieser gewaltsamen Todesfälle von Jakobus, Petrus oder Paulus wird in der Apostelgeschichte auch nur mit einem Wort erwähnt. Für den Historiker liegt die Erklärung auf der Hand: Die Apostelgeschichte muß vor 62 geschrieben worden sein. Wenn das aber schon einmal feststeht, dann muß das Lukasevangelium noch früheren Datums sein. Und da Lukas sowohl das Markus- als auch das Matthäusevangelium als Vorlage für seine Jesusgeschichte benutzte, müssen diese beiden Evangelien noch früher entstanden sein. Diese chronologische Argumentation ergibt sich zwangsläufig aus der Apostelgeschichte selbst.

Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel, diesmal aus dem Johannesevangelium, das gemeinhin als das späteste der vier Evangelien gilt. Die herrschende Meinung datiert dieses Evangelium auf das Ende des ersten Jahrhunderts. Lassen Sie uns die archäologischen Tatsachen hinzuziehen, die uns heute zur Verfügung stehen. Wenn Johannes (Johannes 5,1-18) die Heilung eines Gelähmten am Teich Betesda beschreibt, benutzt er durchweg die Vergangenheitsform, außer in Vers 2, wo er sagt: „Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen.“ Das ist ungefähr so, als würde er dem Leser sagen: „Wenn du den Ort sehen willst, wo Jesus dieses Wunder wirkte, geh mal hin zum Teich Betesda, denn er ist noch vorhanden und sieht so und so aus.“

Dieser Teich wurde am Anfang unseres Jahrhunderts von Archäologen wiederentdeckt und entsprach genau der Beschreibung des Johannes. Da die Anlage im Jahre 70 n. Chr. von den Römern vernichtet wurde, muß Johannes vor dieser Zeit geschrieben haben und sein Text muß mindestens bis dahin unverändert geblieben sein. Nach dem Jahre 70 hätte niemand behaupten können: „Es ist ... in Jerusalem ... ein Teich ... Betesda.“ Die Archäologie beweist also, daß das Johannesevangelium vor dem Jahre 70 verfaßt wurde, und es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen, die Ähnliches beweisen.

Man kann die Evangelien ohne Papyri untersuchen und Beweise in Hülle und Fülle dafür finden, daß die Evangelien und die Apostelgeschichte lange vor 70 n. Chr. geschrieben worden sind. Die Beweise sind vielfältig und fallen in den Zuständigkeitsbereich verschiedener Fachgebiete: Archäologie, Geschichte, Literaturkritik, Kulturforschung, Sprachwissenschaft.

GN: In Ihrem Buch bezeichnen Sie Matthäus Levi als hohen Zollbeamten. Steht für Sie fest, daß er der Verfasser des Matthäusevangeliums ist?

CPT: Die Papyrologie liefert keinerlei Beweise, weder dafür noch dagegen, daß Levi Matthäus Autor des Matthäusevangeliums ist. Auf der anderen Seite finden wir einschlägige Hinweise in frühen Geschichtswerken, die ausnahmslos für Levi Matthäus als Verfasser des Matthäusevangeliums sprechen.

Wenn man das einmal akzeptiert, sind zusätzliche Informationen leicht zu finden, die diese Annahme stützen. Es finden sich zum Beispiel einige lange Reden im Matthäusevangelium, und es stellt sich die Frage, wo sie alle herkommen. Heutige Theologen, die eine bibelkritische Haltung einnehmen, würden sagen, sie seien Jahrzehnte nach den Ereignissen mit Hilfe von Anekdotenfetzen und mündlichen Erzählungen zusammengedichtet.

Aber jeder, der sich in der Altertumsgeschichte auskennt, müßte sich fragen, wie es zu so einer Annahme kommen kann. Denn wenn wir davon ausgehen, daß ein gewisser Matthäus Levi nicht nur Jünger Christi, sondern auch Finanzbeamter in Galiläa war, können wir ebenfalls annehmen, daß er sich auf Kurzschrift verstand. Das gehörte nämlich zum Handwerk dieser Branche. Seine Berufskollegen in Galiläa, Palästina, Ägypten, Rom und Griechenland waren alle der Kurzschrift kundig.

Die nächstliegende Erklärung für die Reden im Matthäusevangelium ist also, daß Matthäus persönlich anwesend war und sich kurzschriftliche Notizen machte, wenn Jesus sprach. Das erste vollständige Evangelium – und in diesem Punkt herrscht seltene Einigkeit – ist das Markusevangelium. Als Matthäus es bekam, konnte er eine erweiterte, verbesserte Version mit Hilfe seiner Notizen erstellen. Das Ergebnis war das Matthäusevangelium, das die langen Reden enthält, die bei Markus fehlen.

Des Rätsels einfache, geschichtlich fundierte Lösung – und die meisten geschichtlich fundierten Lösungen sind einfach – ist, daß Matthäus sehr wohl der Verfasser des Matthäusevangeliums gewesen sein kann. Wenn man die Argumente für und wider seine Autorschaft abwägt, überwiegen die Argumente dafür.

GN: Wie Sie in Ihrem Buch schreiben, ist der heutige Mensch von Zweifeln geplagt. Sie stellen ferner fest: „Die Menschen sind der Säkularisation müde, die klare moralische Prinzipien ablehnt.“ Würden Sie sagen, daß eine Wiederbelebung der Sittlichkeit in der westlichen Welt davon abhängt, daß die Echtheit und Gültigkeit des Neuen Testamentes überzeugend nachgewiesen wird?

CPT: Eine ausgezeichnete Frage! Die einfache Antwort lautet: Ja! Ein Problem mit der gegenwärtigen Haltung der meisten Theologen und Neutestamentler heute, für die ja die Evangelien nur bedingt zuverlässig sind, ist, daß man die Aussagen dieser Schriften den Strömungen der Zeit anpassen kann und darf. Kurz gesagt, der heilige Geist muß den Vorrang an den Zeitgeist abtreten.

Eine Sammlung von Texten, die als sehr subjektive Darstellungen gelten, gibt keine Grundlage für ethische Grundwerte her. Wenn man meint, daß die Evangelien erst am Ende des ersten oder gar im zweiten Jahrhundert nach Christus verfaßt wurden, könnte man genausogut annehmen, sie seien erst im neunzehnten oder zwanzigsten Jahrhundert entstanden.

Wenn wir es aber mit Texten zu tun haben, die in der Zeit wurzeln, zu der das alles geschah, muß sich unsere Haltung ihnen gegenüber ändern. Jesus Christus hat uns verschiedene Verpflichtungen auferlegt, vor allem dann, wenn wir uns zu seinen Nachfolgern rechnen wollen. Wenn das nun von Menschen festgehalten und überliefert wurde, die ihn persönlich gesehen und gehört haben, und wenn es tatsächlich stimmt, wie sie uns berichten, daß wir es sehr ernst nehmen müssen, dann können wir den Folgen nicht ausweichen, wenn wir uns widersetzen.

In der heutigen Zeit, in der ein moralischer Maßstab nach dem anderen über Bord geworfen wird und die Menschen nach Halt und Orientierung suchen, dienen die Evangelien als sittliche Richtlinien für die Gesellschaft und für den einzelnen Menschen.