Wenn Eltern mit ihren Kindern lesen

Wenn im Familienkreise vorgelesen wird, werden positive gemeinsame Erfahrungen gemacht, die eine enge familiäre Beziehung fördern und die Kinder zu lebenslangen Lesern machen.

Von Don Hooser und Jesmina Allaoua

In einigen Ländern wird die alte Tradition des Vorlesens in der Familie mit großer Freude wiederentdeckt. Viele Familien machen die Erfahrung, wie wichtig das Vorlesen ist und wie viel Freude es machen kann. Das Vorlesen ist eine Familienaktivität par excellence.

Zur gleichen Zeit lesen einige aber immer weniger oder können es kaum noch. Diese Situation ist wie ein nie endender Kreislauf. Wenn man nicht richtig lesen kann, hat man immer weniger Interesse daran, ein Buch in die Hand zu nehmen, und dadurch verliert man die Freude am Lesen. Die mangelnde Freude führt dann zu einer fehlenden Motivation, die eigenen Lesefähigkeiten zu verbessern.

Viele Kinder lesen zwar in der Schule, lesen aber außerhalb des Unterrichts nicht mehr als unbedingt notwendig. Prof. Hilmar Hoffmann, Präsident des Goethe-Instituts, bestätigt die weitverbreitete Meinung, daß Lesen seinen Platz vor allem im Schulunterricht habe. Die Untersuchung „Jugend und Medien“ von 1994 hat ergeben, daß die dort befragte jüngere Generation der Unter-Dreißigjährigen in Büchern in erster Linie Träger von Bildung und Instrumente der Wissenschaft sieht. Daß Bücher aber unterhaltsam sein können und daß Lesen Spaß macht, ist offenbar nur einer Minderheit bewußt. Wenn Unterhaltung gefragt ist, denken die meisten zuerst an Fernsehen, Radio und Computerspiele.

So produzieren Schulen Leser, die für die Schule lesen, aber nicht für ihr ganzes Leben. Während den Schülern beigebracht wird, wie sie lesen können, wird ihnen nicht beigebracht, mit Freude lesen zu wollen.

Prof. Dr. Bettina Hurrelmann, Leiterin der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendliteratur, sagt, daß das Lesebedürfnis von vielen Kindern schon im Verlaufe des ersten Schuljahres sinkt.

Fehlende Motivation

Warum lesen viele nicht mit mehr Wonne? Als 1955 zum ersten Mal das Buch Why Johnny Can't Read [„Warum Johnny nicht lesen kann“] in den USA erschien, begann man dort dieser Frage ernsthaft auf den Grund zu gehen. Seitdem haben viele Untersuchungen eine Schlußfolgerung bestätigt: Leser, die nicht gerne lesen, konnten schon als Kinder sehr schlecht lesen.

Nach Hochrechnungen der Weltbildungsorganisation UNESCO, die den 8. September 2001 als Weltalphabetisierungstag ausrief, gibt es rund vier Millionen Deutsche, die nicht oder nur mangelhaft lesen und schreiben können.

Weil das Lesen die wichtigste Disziplin bei der Schulbildung ist, wurde 1983 eine nationale Kommission für das Lesen in den Vereinigten Staaten gegründet, um zu untersuchen, was beim Leseunterricht funktioniert und was nicht. Nach zwei Jahren intensiver Untersuchungen veröffentlichten die Mitglieder 1985 ihren Bericht Becoming a Nation of Readers [„Eine Nation der Leser werden“]. Beachten Sie den Schluß des Berichts: „Die einzige wichtige Aktivität ... für den möglichen Erfolg beim Lesen ist, den Kindern vorzulesen.“

Wenn Eltern möchten, daß ihre Kinder gute Leser werden, müssen sie ihnen laut vorlesen und auch die Kinder laut vorlesen lassen. Sie müssen ihnen vor und auch mit ihnen zusammen lesen.

Warum ist das so? Erstens hängt der Erfolg einer jeden Unternehmung vor allem von der Einstellung ab. Mehr noch als jede andere Aktivität – im oder außerhalb des Unterrichts – hat das Vorlesen den größten Einfluß darauf, positive Einstellungen zu Büchern und dem Lesen zu entwickeln.

Ein zweiter Grund ist, daß das regelmäßige Vorlesen die Sprachfähigkeiten der Kinder – Lesen, Schreiben, Sprechen – stärkt. Und warum? Weil es das Verständnis beim Zuhören der Kinder stärkt. Die Fähigkeit zuzuhören muß vor der des Lesens kommen.

Hürden überwinden

Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung e. V., sieht in der Ursache für den Analphabetismus die fehlende Unterstützung im Elternhaus: „In vielen Familien sind Bücher kein Thema, die Kinder kommen deshalb mit schlechten Voraussetzungen in die Schule.“ Nicht selten erleben Kinder Bücher im Elternhaus als „totes Kapital“, statt als Quelle der Faszination.

Die Förderung geistiger Interessen im Elternhaus schwindet dahin. Animierten 1992 knapp die Hälfte aller Familien ihre Kinder zum Lesen, so tut dies heute nur noch ein Viertel. Wenn Kinder aber keine Vorbilder innerhalb der Familie finden, werden sie selbst auch nicht lesen wollen. Dieses Verhalten wird nicht selten von Generation zu Generation weitergereicht.

Warum lesen Eltern, Großeltern und Lehrer den Kindern nicht mehr vor, wie sie es einmal taten?

Das liegt zum einen daran, daß Kinder heute in einer multimedialen Umwelt aufwachsen. Der 1999 durchgeführten Vergleichsstudie Kinder und Medien des Forschungsverbundes Südwest ist zu entnehmen, daß inzwischen nicht nur Fernsehen, Videorecorder und Hifi-Anlagen in Haushalten mit Kindern allgegenwärtig sind, sondern knapp die Hälfte dieser Haushalte über einen PC verfügt.

Gerade im Bereich der Computer- und Internetnutzung erwartet man in der Altersgruppe der 6-11jährigen erhebliche Zuwachsraten. Entsprechend ist der Stellenwert, den Medien, allen voran das Fernsehen, heute in den Freizeitaktivitäten der Kinder einnehmen. Während der tägliche Fernsehkonsum je nach Alter bis zu dreieinhalb Stunden auffrißt, schrumpft die Zahl der lesefreudigen Haushalte.

Die Verantwortung der Eltern gegenüber ihren Kindern

Es wäre allerdings fatal, die Förderung und Erziehung der Kinder hauptsächlich den Medien und Schulen zu überlassen. Der Deutsche Lehrerverband appellierte deshalb eindringlich an die Eltern: „Bildungsoffensiven sind nur denkbar, wenn sie von den Eltern zu Hause durch aktives Erziehen mitgetragen werden.“

Es liegt bei den Eltern zu entscheiden, das Fernsehen auszuschalten und dem Kind die ganze Aufmerksamkeit zu geben, nach der es sich sehnt und die es braucht.

Ilse-Maria Oppermann, Vorsitzende des Bundeselternrates, schreibt: „Für Kinder sind Bücher wichtig. Darum müssen Vater und Mutter die Zeit nutzen und früh anfangen, ihrem Kind vorzulesen, Geschichten zu erzählen, Gedichte vorzutragen, ihm ermöglichen, mit Büchern zu leben“ (In Sachen Lesekunst, „Das Recht der Kinder auf Hoffnung“, 1991, Seite 42).

Vielleicht sind wir zu beschäftigt und haben keine Zeit? Wir sprechen hier von nur 15 Minuten am Tag, es sei denn, Sie und Ihr Kind entscheiden sich für mehr Zeit. Wir alle haben 24 Stunden in unserem Tag. Es geht hier nicht so sehr um Zeit, sondern um Prioritäten. Wir bestimmen, was wir tun, je nachdem, was uns am wichtigsten ist.

Das Vorlesen wird Kinder motivieren, mehr zu lesen – damit werden sie besser lesen, je mehr sie üben (d. h. in diesem Fall: lesen); je besser sie lesen können, desto mehr werden sie es mögen; und je mehr sie es mögen, desto mehr werden sie es tun. Sie werden mehr Interesse an Büchern haben. Erwachsene müssen die Funken des Verlangens anzünden und die Flammen anfachen. Die Kleinen müssen zum Spaß, zur Freude und zum Abenteuer des Lesens hingeführt werden.

Spätere Vorteile vom Lesen

Einige Eltern hören mit dem Vorlesen auf, sobald ihre Kinder selbst lesen können. Weit mehr als für die Lektüre der Kinder fühlen sich viele Eltern dafür verantwortlich, was Kinder an Fernsehsendungen sehen: 57 Prozent der Eltern möchten auf die Fernsehgewohnheiten ihrer Kinder Einfluß nehmen, nur 21 Prozent auf die Lektüre.

Renate Köcher vom Institut für Demoskopie, Allensbach, berichtet von folgenden Ergebnissen einer Umfrage: „Nur 22 Prozent der Bevölkerung hatten in einer Umfrage den Eindruck, daß ihnen die Eltern Freude an Büchern vermitteln wollten ... Lesefreude ist zwar sozial erwünscht und anerkannt, doch eher als abstrakter Wert in der Kindererziehung, nicht als ein lebendiges, mit großer Anteilnahme verfolgtes Ziel ... 51 Prozent der Bevölkerung geben an, ihre Eltern hätten auf das Lesen überhaupt keinen Einfluß genommen; 30 Prozent hatten den Eindruck, daß es den Eltern völlig egal war, ob man las“ (In Sachen Lesekunst, „Familie und Lesen“, 1991, Seite 103).

Das mangelnde elterliche Interesse aber ist ein Fehler. Bücher sorgen besser als alle anderen Medien dafür, daß zwischen Eltern, Vater, Mutter und Kind eine innige Verbundenheit entsteht.

Auch wenn ein Kind im schulpflichtigen Alter selbst lesen kann, sollte dies kein Grund sein, mit der Familientradition des Vorlesens aufzuhören. Sie hat weiterhin all die gleichen Vorteile und Freuden. Selbst Teenager sind nicht zu alt, eine gute Geschichte zu genießen.

Wenn das Kind älter wird, wird das gemeinsame Vorlesen auf eine etwas andere Weise wichtig. Sie ist ein wichtiges Hilfsmittel, die Linien der Verständigung offenzuhalten. Bei einem Erziehungsproblem können sich Kinder mehr öffnen, nachdem sie über ein ähnliches Problem gelesen haben. Die in einer Geschichte geschilderte Situation und das entspannte Zusammensein mit den Eltern können zu einer hilfreichen Diskussion führen, wenn die Kinder immer mehr moralischen Versuchungen und Konflikten gegenüberstehen.

Und welche Auswirkungen hat das gemeinsame Vorlesen auf die familiäre Beziehung? Im Gegensatz zum Fernsehen ist das Lesen eine gesellschaftliche Erfahrung. Vorlesen bringt Eltern und Kinder zusammen. Sie können jederzeit unterbrechen, um gemeinsam über die Geschichte zu lachen oder zu weinen. Sie teilen Dinge des Verstandes und des Herzens. Sie bauen emotionale Brücken auf.

Das gemeinsame Lesen ist eine ideale Aktivität, um uns näher zusammenzubringen, eng beieinander zu sitzen, zusammen zu kuscheln und die heilsame Berührung zu genießen. Gute Erinnerungen und das warme Gefühl der Liebe werden durch diese Erfahrungen aufgebaut.

Die Vorteile des Vorlesens werden von Gillilan Strickland in ihrem Gedicht The Reading Mother [„Die lesende Mutter“] beschrieben:

Du hast vielleicht unschätzbaren materiellen Wohlstand:
Truhen voller Juwelen und Koffer voller Gold.
Doch reicher als ich kannst Du nie sein:
Denn ich hatte eine Mutter, die mir vorlas.

Wer sollte vorlesen – die Mutter oder der Vater? Beide! In der Durchschnittsfamilie liest meistens die Mutter den Kindern vor. Renate Köcher berichtet, daß 46 Prozent der Bevölkerung angeben, ihr Vater habe gänzlich andere Interessen gehabt und sich daher nicht mit Büchern beschäftigt; weitere 31 Prozent meinten dazu, ihre Väter haben nur wenig gelesen.

Die Jungen bekommen den Eindruck, daß Lesen nicht männlich ist, und verlieren das Interesse daran. Die Folge ist, daß die meisten Schüler beim Nachhilfeunterricht fürs Lesen Jungen sind. Deshalb muß der Vater genauso viel Interesse an der Geistes- und Herzensbildung seines Kindes zeigen wie an der Entwicklung seines Körpers. Der Vater und seine Kinder gewinnen viel, wenn er ihnen vorliest.

Untersuchungen haben darüber hinaus auch gezeigt, daß ‚Viel-Leser‘ im Gegensatz zu ‚Nur-Fernsehern‘ Informationen besser beurteilen können, mehr Phantasie haben, kreativer sind und so über bessere berufliche und soziale Chancen verfügen.

Tips zum Vorlesen

Manchmal kann Vorlesen aber auch monoton und langweilig sein. Hier sind einige Vorschläge, wie das Vorlesen interessant gestaltet werden kann:

Zeigen Sie beim Vorlesen Begeisterung für die Geschichte.

Lesen Sie oft zusammen, doch lassen Sie eine Sitzung nicht länger als die Aufmerksamkeitsspanne des Kindes dauern.

Die besten Bücher und Geschichten zum Vorlesen sind diejenigen, die weder zu schwer noch zu einfach für das Kind sind. Wenn eine Geschichte Worte oder Abschnitte enthält, die langweilig oder zu schwierig für das Verständnis des Kindes sind, überspringen Sie sie einfach oder ändern Sie sie. Mit anderen Worten, erzählen Sie an solchen Stellen die Geschichte mit eigenen Worten.

Wählen Sie Geschichten aus, die hoch interessant sind. Schließen Sie Gedichte in die Auswahl mit ein.

Gebrauchen Sie viele Ausdrucksweisen, und ändern Sie den Ton Ihrer Stimme dem Dialog entsprechend.

Lesen Sie nicht zu schnell vor. Variieren Sie das Tempo, mit dem Sie vorlesen, von Zeit zu Zeit.

Nehmen Sie sich die Zeit, das, was Sie gerade vorgelesen haben, mit Ihrem Kind zu besprechen.

Welche Lektüre sollten Sie zum Vorlesen auswählen? Es gibt eine Menge wertvoller Dinge zu lesen – wundervolle Bücher, Geschichten, Gedichte und Artikel! Bedenken Sie, wieviel Sie und Ihre Kinder zusammen lernen können. Kinder gewinnen viel Reife durch das Hören von Weisheit in der Literatur. Ihr Horizont wird dadurch erweitert.

Treffen Sie weise Entscheidungen für Ihre Familienlesungen. Wählen Sie Literatur aus, die das Richtige gegenüber dem Falschen deutlich aufzeigt. Wir können so viel über das Leben aus Sachbüchern und von Helden und Schurken von Fiktion lernen. Wenn die Schule Ihres Kindes wichtige Themen wie Geschichte und große Persönlichkeiten der Vergangenheit vernachlässigt, schließen Sie diese Lücken durch die Behandlung solcher Themen zu Hause.

Das Buch, das niemand missen sollte

Ilse-Maria Oppermann appelliert an die Eltern, den Kindern gerade in der heutigen Zeit wieder Hoffnung zu vermitteln. Sie schreibt: „Im Angesicht einer öffentlichen Gefühlslage, welche die Trostlosigkeit erbaulich findet, die sich in Düsternis – zuweilen resignierend, zuweilen behaglich – einrichtet, können Beispiele, in der Literatur exemplarisch dargestellt, Ängste verringern, Hoffnungen aufscheinen lassen und die Trauer mit Freude vermischen. In einer Welt, in der Angst vor der Zukunft zum Schlagwort geworden ist, haben Kinder und Jugendliche ein Anrecht auf Hoffnung. Auf dem Weg zur aktiven Gestaltung der Zukunft kann Literatur einen wichtigen Beitrag leisten“ (ebenda, Seite 42).

Ein Buch, das deshalb in keiner Familie fehlen sollte, ist die Bibel – ein Bestseller in der ganzen Welt und das Fundament für Wissen und Verhalten. Selbst wenn die Bibel oft nur als Literatur eingeschätzt wird, zählen Gelehrte sie zu den großartigsten Werken der Literatur. Die Bibel besteht aus einer Vielfalt an literarischen Formen.

Große Persönlichkeiten der Geschichte schätzten den Wert der Bibel:

Gerhard Eberling: „Verlust der Bibel bedeutet nicht nur Bildungsverlust und Sprachverlust, sondern Lebensverlust.“

Jean-Jacques Rousseau: „Man mag die hochtrabenden Schriften unserer Philosophen studieren, aber wie gering und unwürdig sind sie doch, wenn sie mit der Bibel verglichen werden.“

Jeder liebt Geschichten, und die Bibel enthält viele Geschichten voller Abenteuer, Helden und Schurken, Tragödien und Triumphe, Drama und Gefühle.

Leider gibt es in unserem heutigen Bildungssystem sehr starke Vorbehalte gegenüber der Bibel. Die Bibel ist jedoch das Handbuch für den Menschen, dessen Inhalte und Aussagen über das Leben und die Zukunft des Menschen sehr lesenswert sind. Eltern sollten ihre Kinder darin unterstützen, die Grundwahrheiten und moralischen Werte, die der Schöpfergott den Menschen gegeben hat, in der Bibel zu entdecken.

Auch wenn Eltern an ihrer Fähigkeit zweifeln, ihren Kindern biblische Geschichten richtig erklären zu können, sollten sie ihnen trotzdem aus der Bibel vorlesen. Es ist wichtig, daß Kinder solche Geschichten hören und sie auf diese Weise erleben können. Oft wirken sie von ganz allein; dabei ist keine große Erklärung notwendig.

Einige Eltern und Kinder empfinden die Bibel als langweilig und sehr schwer zu verstehen. Man kann aber die Passagen, die uninteressant erscheinen oder schwer zu verstehen sind, vorerst einfach überspringen, ohne daß dabei die Botschaft der Geschichte vernachlässigt wird.

Nach der Schrift ist es die höchste Verantwortung der Eltern, ihre Kinder richtig zu erziehen. Es ist eine Tatsache, daß Kinder keine guten Leser werden, wenn ihre Eltern sie nie dazu ermutigt haben. Wenn sie aber schon im Kindesalter an Bücher durch das Vorlesen und Geschichtenerzählen herangeführt wurden, werden sie auch selbst Freude am Lesen entwickeln. Und eines Tages, wenn sie ihre eigenen Kinder haben, werden auch sie ihnen vorlesen wollen.