Wird die Welt nach dem Irak-Krieg neu geordnet?

In der Geschichte der menschlichen Zivilisation waren es oft Kriege, deren Ausgang zu einer Neuaufteilung von Machtsphären führte. Ist der Irak-Krieg Vorbote einer solchen Veränderung?

Von Paul Kieffer und Melvin Rhodes

In seinem Klassiker 1984 beschrieb der britische Schriftsteller George Orwell eine Zukunft, in der die Welt unter drei Machtblöcken aufgeteilt ist: Ozeanien, Eurasien und Ostasien. Im Streit um die Weltherrschaft ist Ozeanien immer mit einer der beiden anderen Mächte verbündet und führt mit ihr Krieg gegen die dritte. Mehr als 50 Jahre später scheint Orwells Darstellung fast prophetisch zu sein, wobei sich die Aufteilung der Welt anders gestaltet, als in seinem Roman beschrieben.

Der Irak-Krieg ist das vorerst letzte Ereignis in einer Kettenreaktion, die mit den Anschlägen vom 11. September 2001 ausgelöst wurde. In den letzten achtzehn Monaten fand ein geopolitischer Ruck statt, der noch nicht abgeschlossen ist. Der Streit unter den NATO-Verbündeten vor – und jetzt wahrscheinlich auch nach – dem Krieg ist eine Kontur in dieser Bewegung. Der Schock, den die Niederlage des Iraks den arabischen Ländern des Nahen Ostens versetzt hat, ist wohl die andere. Der Umriß einer neuen Weltordnung wird langsam sichtbar.

Die Aufteilung des Westens

Der Verlauf des Irak-Kriegs war von sehr kurzer Dauer. Beteiligt waren keine großen Bündnisse, sondern praktisch nur der Irak und die USA mit Großbritannien. Dieser Krieg läßt sich deshalb kaum mit den Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts vergleichen. Trotzdem geht von ihm eine Signalwirkung aus: Die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestehende Nachkriegsordnung ist eindeutig in Bewegung geraten.

Der Irak-Krieg hat das Auseinanderdriften Amerikas und Europas offen zur Schau gestellt. Die alleinige Großmacht Amerika hat mit dem seit dem Zweiten Weltkrieg praktizierten Grundsatz gebrochen, in Abstimmung – oder zumindest mit der Duldung – seiner europäischen Partner außenpolitisch zu handeln. Manche Europäer halten ein ohne die Zustimmung der Völkergemeinschaft handelndes Amerika für unberechenbar. Es gilt daher, dem „entfesselten Gulliver“, so Der Spiegel, ein Gegengewicht entgegenzustellen. Die feierliche Unterzeichnung der Verträge zur EU-Osterweiterung bot manchem Kommentator die Gelegenheit, diesen Standpunkt kundzutun:

„Der Aufwuchs amerikanischer Macht – und die damit einhergehende und wachsende Asymmetrie zu Europa – hat nach Ansicht nicht nur der deutschen Regierung ein Maß erreicht, das die Bildung einer starken europäischen Gegenmacht erfordert. Europa, das durch seine Integration vieler eigener Konflikte Herr wurde, soll auch jenseits seiner Grenzen Frieden bringen und das Vakuum füllen helfen, das sonst Amerika überlassen bliebe. Das ist ebenfalls ein lobenswertes und gar nicht neues Ziel“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. April 2003; Hervorhebung durch uns).

Der in Ingolstadt erscheinende Donaukurier drückte es bündiger aus: „Es ist nicht gut, wenn eine Supermacht im Weltgeschehen nach Belieben schalten und walten kann. Die Welt braucht ein Gegengewicht zu den USA; Europa mit seinen Traditionen und Erfahrungen ist dafür prädestiniert“ (16. April 2003; Hervorhebung durch uns).

Bis zum Ende des kalten Kriegs wären solche Kommentare in einer westeuropäischen Zeitung unvorstellbar gewesen. Nach dem Kollaps des sowjetischen Systems überwiegt im Westen nicht mehr die gemeinsam empfundene Bedrohung. Statt dessen wird es zunehmend schwieriger, einen gemeinsamen Nenner für unterschiedliche Interessen innerhalb der westlichen Allianz zu finden.

Die Auseinandersetzung um den Irak-Krieg ist beispielhaft für Meinungsverschiedenheiten in bezug auf den Nahostkonflikt im allgemeinen. Da dieser Konflikt, zusammen mit den Auswirkungen des Irak-Kriegs, im Blickpunkt des Weltgeschehens bleiben wird, ist die Haltung der USA bzw. Europas dazu von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Zukunft des westlichen Bündnisses.

Obwohl gewiß nicht antiarabisch, tendiert Amerika nach Meinung der Europäer eher zur Unterstützung der israelischen Sache. Mit Europa verhält es sich genauso, aber umgekehrt: Obwohl Europa keineswegs antiisraelisch ist, scheint es in den Augen mancher Amerikaner eher auf der Seite der Palästinenser zu stehen. In Europa weist man gelegentlich auf den Einfluß der amerikanischen Juden auf die Politik ihrer Regierung hin. Im Gegenzug darf nicht übersehen werden, daß der Anteil der Bevölkerung islamischer Herkunft in Westeuropa größer ist als der der jüdischen Bevölkerung in Amerika.

Die Verbindung zwischen den USA und dem Staat Israel (siehe dazu auch unseren Kommentar auf Seite 2) ist tiefgreifender als nur der Einfluß jüdischer Verbände und Organisationen in den USA. In biblischer Geschichte waren die „Israeliten“ viel mehr als nur die Juden von heute. Das ganze Volk Israel umfaßte zu biblischer Zeit zwölf Stämme, von denen die Juden nur ein Stamm sind. In der späteren biblischen Geschichte war das Volk Israel in zwei Nationen aufgeteilt, das „Haus Israel“ im Norden des Gelobten Landes mit zehn Stämmen und das „Haus Juda“ im Süden. Die Juden von heute sind größtenteils Nachkommen des ehemaligen Hauses Juda.

Ihre Nachbarn im Haus Israel gerieten 718 v. Chr. in assyrische Gefangenschaft. Was geschah mit diesen Israeliten nach ihrer Wegführung nach Assyrien? Allgemeine Annahme ist, daß die zehn nördlichen Stämme untergegangen sind. Daher wird oft von den „zehn verlorenen Stämmen“ gesprochen. Die vorherrschende Meinung in der Gelehrtenwelt ist, daß sie entweder von heidnischen Völkern aufgesogen wurden oder einfach ausgestorben sind.

Im Gegensatz zu den Juden hatten die Angehörigen der zehn Stämme des Nordreichs den biblischen Ruhetag, den Sabbat, nicht mehr gehalten; folglich verloren sie ihre Identität. Heute nehmen viele fälschlicherweise an, die Juden machten das gesamte Israel der Antike aus, was aber keineswegs der Fall ist.

Der israelische Talmud-Gelehrte Yair Davidy liefert in seinem Buch The Tribes: The Israelite Origins of Western Peoples überzeugendes Beweismaterial, daß diese entwurzelten Israeliten während und auch nach ihrer Gefangenschaft ihre Sippennamen innerhalb des Stammesverbandes bewahrt haben. Er schreibt, daß „sowohl aus biblischen, talmudischen, historischen, archäologischen und linguistischen Quellen als auch aus der Folklore, der Mythologie, den nationalen Symbolen und Charakteristiken dafür überzeugende Beweise gefunden werden können“ (1993, Seite XIV).

Als Bürger Jerusalems hatte Herr Davidy für seine Recherchen Zugang zu den historischen und biblischen Quellen der Jerusalemer Nationalbibliothek. Er stellt fest, daß die Stammes- und Sippennamen ein Schlüssel für die Wege der Israeliten bei ihren Wanderungen sind.

In seiner Einleitung faßt er seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen: „[Mein Buch] liefert Beweise dafür, daß die meisten der alten Israeliten ihre Herkunft vergaßen und sich fremden Kulturen anpaßten. Im Laufe der Jahrhunderte erreichten sie die Britischen Inseln ...“ Von dort aus sind verwandte Nationen (wie z. B. die USA) entstanden. Zur umfassenden Information über diesen Aspekt der historischen Wanderungen Israels möchten wir den englischkundigen Leser direkt auf die beiden Bücher von Yair Davidy verweisen: The Tribes: The Israelite Origins of Western Peoples (1993) und Lost Israelite Identity (1996).

Diese historische Bindung erklärt, warum die USA bei einer Bedrohung des Staates Israel immer an der Seite Israels stehen werden.

Die Distanz zwischen Europa und Amerika wird weiter wachsen. Auf welche Seite wird sich Großbritannien stellen: auf die der kontinentalen Europäer oder die der USA?

Die Antwort liegt nach dem Irak-Krieg auf der Hand: Großbritannien wird zu den USA halten. In einem Interview mit dem Londoner Financial Times ging der britische Premierminister Tony Blair auf die derzeitige Lage der transatlantischen Beziehungen ein: „Es gibt hier ein Problem zwischen Amerika und Europa, das wir lösen müssen. Ich will nicht, daß Europa sich in Opposition zu Amerika begibt. Das wäre gefährlich und destabilisierend“ (28. April 2003).

Man kann sich vorstellen, wie manche kontinentalen Europäer auf Blairs Kommentar reagierten. Der belgische Außenminister hatte nur wenige Wochen zuvor der Bush-Administration das Aufzwingen eines unterwürfigen Verhältnisses vorgehalten.

Die langsam sichtbar werdenden Konturen einer Neuausrichtung der westlichen Welt zeigen die USA mit Großbritannien – und den anderen angelsächsischen Ländern des englischen Sprachraums – auf der einen und das kontinentale Europa auf der anderen Seite. (Lesen Sie dazu auch den nachfolgenden Artikel „Sind wir Zeitzeugen der letzten Tage der Nachkriegsordnung?“).

Aufwind für islamischen Fundamentalismus

Die neuen Herrscher in Bagdad sagen, daß es viel zu früh ist, die Auswirkungen ihrer Intervention auf die arabische Welt abzuschätzen. In Washington geht man davon aus, daß eine amerikanische Militärpräsenz im Irak für mindestens zwei Jahre notwendig sein wird, da sich das Land nicht übernacht stabilisieren läßt. Man hofft jedoch, daß ein demokratischer Irak eine neue Ära in der Region einleiten wird.

Die Einführung der Demokratie im Irak könnte jedoch anders verlaufen, als sich die Amerikaner es vorstellen. Interessant ist, daß zu denen, die das neue Klima der Freiheit im Irak zur Verbreitung eigener Ideen nutzen, schiitische Geistliche gehören. In ihren Reihen sind manche, die mit dem Iran sympathisieren und den USA nicht besonders wohl gesonnen sind.

Eine demokratisch gewählte irakische Regierung mit islamischer Ausrichtung könnte den wachsenden religiösen Einfluß in einer Region, wo das ohnehin der Fall ist, verstärken. Beispielsweise kontrollieren Islamisten nach politischen Reformen in Kuwait das dortige Parlament und verhinderten kürzlich die Eröffnung von Universitäten für beide Geschlechter und die Erteilung des allgemeinen Stimmrechts an Frauen. Der Wahlsieg im vergangenen Herbst der als moderat geltenden islamischen Partei in der Türkei führte im März zur Ablehnung des Stationierungsgesuchs der Amerikaner zur Eröffnung einer zweiten Kriegsfront von türkischem Boden aus.

Allgemein sind die Gruppen in arabischen Ländern, die am besten organisert sind, breite Zustimmung in der Bevölkerung haben und deshalb die günstigste Ausgangslage für eine Demokratisierung der Region haben, islamische Fundamentalisten. Das sind ausgerechnet die Gruppen, deren Einfluß Washington nicht fördern möchte. Dazu meinte Mamun Hodaibi, der 83jährige Führer in der „Muslim Brotherhood“ Ägyptens: „Ich bin sicher, daß es nie die Absicht von George Bush war, uns zu helfen. Aber genau das hat er getan“ (The Wall Street Journal, 1. Mai 2003).

Auch wenn die Folgen einer Demokratisierung des Iraks nicht vorauszusehen sind, ist eines heute schon klar: Der Sieg der Amerikaner über Saddam Hussein wird dem islamischen Fundamentalismus neuen Auftrieb geben. Der ägyptische Präsident Hosni Mubarak hatte sicherlich Recht mit seiner geäußerten Befürchtung, daß der Krieg 100 neue Bin Ladens hervorbringen wird.

Die Niederlage Saddams schockierte viele Araber in der Region und läßt sie nun fragen, wer ihnen Identität und Selbstwertgefühl geben kann. Die Menschen in Ländern wie Jordanien und Ägypten sind enttäuscht von den eigenen Regierungen, deren Proteste gegen die Irak-Intervention von der eigenen Bevölkerung nicht ernst genommen wurden.

Mit Sicherheit wird die amerikanische Militärpräsenz in dem Irak und in der Region den islamischen Fundamentalismus weiter nähren. In ihrer Ausgabe vom 23. Februar 1998 druckte die in arabischer Sprache erscheinende Londoner Zeitung Al-Quds al-Arabi den vollständigen Text einer „Erklärung der Islamischen Front für den Dschihad gegen die Juden und die Kreuzfahrer“ ab, zu deren Unterzeichnern Osama bin Laden und die Führer anderer militanter islamischer Gruppen in Ägypten, Bangladesch und Pakistan gehörten.

In der Erklärung wurde die Stationierung von amerikanischen Truppen auf der arabischen Halbinsel scharf verurteilt. Die Unterzeichner gelangen zu dem Schluß, daß das Verhalten der Amerikaner einer „klaren Kriegserklärung gegen Gott, seinen Propheten und Muslime“ gleichkommt. Der Leser wird daran erinnert, daß die ulema – „die Verantwortlichen für Theologie und das islamische Gesetz oder Scharia“ – in vergangenen Jahrhunderten einstimmig verfügten, dschihad sei die persönliche Verpflichtung eines jeden Muslims bei einem feindlichen Angriff auf muslimische Länder.

Ob durch demokratische Mittel oder durch radikal-militanten Einfluß wird sich der Nahe Osten in den nächsten Jahren stark verändern.

„Bühne frei“ für neue Allianzen

Von der Geschichte erfahren wir, daß alle bisherigen Weltmächte niedergegangen und ihre Bündnisse auseinandergebrochen sind, und neue sind entstanden. Die Prophezeiungen der Bibel sagen für die Zeit unmittelbar vor der verheißenen Rückkehr Jesu Christi neue Allianzen voraus. Ein „König des Südens“ wird einen „König des Nordens“ provozieren (Daniel 11,40). Da der Standort des Erzählers in dieser Prophezeiung Jerusalem und das Heilige Land ist, herrscht der „König des Südens“ über ein Gebiet südlich von Jerusalem und der „König des Nordens“ herrscht im Norden. Dieser König führt ein Bündnis von zehn Staaten oder Staatengemeinschaften als letzte prophezeite Wiederbelebung des Römischen Reiches. Zusammen bekämpfen sie sogar den wiederkehrenden Jesus (Offenbarung 17,12-14).

Der „König des Südens“ steht ebenfalls einem Bündnis von Staaten vor und wird durch seine Provokation den König des Nordens, also der nördlich von Jerusalem – in Europa – gelegenen Macht, zu einer Militärintervention im Nahen Osten veranlassen. Dabei werden Jerusalem und das Heilige Land besetzt (Daniel 11,41. 45), bevor Jesus Christus zur Erde zurückkehrt. Die Entstehung einer europäischen Supermacht und der Aufstieg des „Königs des Südens“, sehr wahrscheinlich durch den Einfluß islamischer Fundamentalisten, wurden also vor langer Zeit in der Bibel vorhergesagt.

Die veränderte Lage nach dem Irak-Krieg weist somit auf weitere Änderungen noch größeren Ausmaßes in der Zukunft hin. Die gute Nachricht ist, daß diese Entwicklung, die in den kommenden Monaten und Jahren immer deutlicher werden wird, letztendlich in der Wiederkehr Jesu und dem Etablieren des Reiches Gottes auf Erden führen wird. Unsere kostenlose Broschüre Das Reich Gottes – eine gute Nachricht erklärt Ihnen im Detail, was es mit diesem Reich auf sich hat und wie die Bibel es beschreibt. Auf Anfrage senden wir sie Ihnen gerne zu.

Sind wir Zeitzeugen der letzten Tage der Nachkriegsordnung?

In einem Beitrag am 12. Februar 2003 stellte die renommierte International Herald Tribune [IHT] eine schwere Erschütterung der drei Säulen der westlichen Nachkriegsordnung fest: „Noch ist kein Schuß in dem drohenden Irak-Krieg abgefeuert, doch die politischen Spannungen im Vorfeld des Krieges fügen den drei Institutionen, die das Streben nach multilateraler Sicherheit unter den westlichen Demokratien verkörpern, schweren Schaden zu: der Europäischen Union, der NATO und dem UN-Sicherheitsrat. Das Geflecht gegenseitiger Sicherheitsverpflichtungen, das dem Westen das Aussitzen aller bisherigen transatlantischen Stürme in den Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ermöglichte, steht einer Herausforderung von innen gegenüber, die das Nachkriegssystem verändern oder gar bedeutungslos machen könnte.“

Nach Darstellung der IHT ist die durch den Irak-Krieg heraufbeschworene Krise deshalb so schwer vorstellbar, weil sie gleichzeitig drei Hauptsäulen der Zusammenarbeit in Frage stellt: die europäische Einigkeit, die von den USA dominierte Allianz und die Beziehungen zwischen den USA und den anderen Veto-Mächten im UN-Sicherheitsrat, besonders Frankreich und Rußland. „Wenn es in der Vergangenheit eine Konfrontation im Sicherheitsrat gab, vollzog die NATO einen Schulterschluß, so daß Differenzen unter europäischen Ländern die Einigkeit der NATO nie ernsthaft bedrohten. Ein britischer Kabinettsbeamter meinte, diesmal verursache die transatlantische Spaltung einen Riß quer durch alle drei Organisationen, die das Ende des kalten Kriegs unversehrt überlebt hatten“ (ebenda).

Was kann man vor dem Hintergrund dieser ernsthaften Verstimmung für die Zukunft erwarten?

Voraussetzung für eine neue Weltordnung: Das Ende der NATO

Die aus dem Zweiten Weltkrieg resultierende Weltordnung stützt sich, was den Westen anbelangt, auf das nordatlantische Verteidigungsbündnis. Ein deutliches Zeichen oder gar eine Bestätigung für die grundlegende Veränderung dieser Nachkriegsordnung wäre daher das Ende der NATO.

Als Resultat der transatlantischen Spannungen in den vergangenen Monaten stellen einflußreiche amerikanische Medien die Nützlichkeit der NATO in Frage. Darunter sind nicht nur die rechtskonservativen Meinungsmacher, sondern auch besonnene Stimmen wie die des Wall Street Journal.

In einem überraschenden Kommentar vom 10. Februar 2003 mit dem Titel „Das Ende der NATO“ hieß es: „An diesem Wochenende setzten Frankreich und Deutschland die Institutionen weiter aufs Spiel, die die westliche Allianz seit einem halben Jahrhundert vereint gehalten haben. Die Frage, die es jetzt zu überlegen gilt, ist, ob jene Allianz, formell als NATO bekannt, immer noch den Interessen der Vereinigten Staaten dient. Die Frage mag radikal erscheinen, aber das kürzliche Verhalten von Nationen, die als Verbündete der USA gelten, rechtfertigt sie ... Wenn die USA das von der NATO erwarten können, ist es vielleicht an der Zeit, daß Amerika den Austritt aus dieser Institution des kalten Krieges und die Gründung einer Allianz von Nationen, die die neuen Bedrohungen für die Sicherheit der Welt verstehen, in Erwägung zieht.“

Wenn Journalisten über ein Ende der NATO spekulieren, mag es nur ein Sturm im Wasserglas sein. Anders sieht es aus, wenn sich hochrangige Politiker darüber auslassen. Als Belgien, Deutschland und Frankreich Anfang Februar einen NATO-Beschluß zur Bereitstellung von Luftabwehrraketen für die Türkei zunächst verhinderten, „drückte [US-Außenminister] Powell bei einer Anhörung im US-Senat seine Sorge darüber aus, daß die NATO ... wegen der verweigerten Hilfeleistung auseinanderbrechen könnte“ (AP-Meldung vom 12. Februar 2003). Der Streit wurde zwar später beigelegt, aber nicht bevor Powell und andere Vertreter der US-Administration über die Zukunft der NATO laut nachgedacht hatten.

In unserer letzten Ausgabe berichteten wir über die Überlegungen einiger US-Kongreßabgeordneter, infolge der transatlantischen Spannungen die Zahl der in Deutschland stationierten US-Truppen zu reduzieren. Ende April sprach sich der Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa, der Marineinfanterie-General Jim Jones, für eine radikale Verkleinerung der NATO-Truppen aus. Die NATO benötige keine „2,3 Millionen Menschen in Uniform“, so Jones. Darüber hinaus bezog sich der Kommandeur auf Pläne des amerikanischen Verteidigungsministeriums, Stützpunkte aus Westeuropa nach Osteuropa zu verlegen. Insgesamt bereiten „die amerikanischen Streitkräfte in Europa die umfassendste Truppenreduzierung und -dislozierung seit Ende des Zweiten Weltkrieges“ vor (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. April 2003).

Eigenständige europäische Streitmacht

Eine zwingend notwendige Folge, die sich aus einer Auflösung oder Schwächung der NATO ergeben würde, wäre die Schaffung einer eigenständigen europäischen Streitmacht. Überrascht es denn überhaupt, daß Warnungen im Vorfeld des Ende April 2003 stattgefundenen Vierergipfels zur europäischen Verteidigungspolitik in bezug auf eine neue Belastung des transatlantischen Verhältnisses laut wurden?

Der belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt, der seine Amtskollegen aus Deutschland, Frankreich und Luxemburg nach Brüssel eingeladen hatte, sieht seine Anregung hingegen als notwendige Stärkung der außenpolitischen Rolle der EU. Verhofstadt betonte in Interviews vor dem Treffen, die Initiative sei nicht gegen die NATO gerichtet.

Andere sind da nicht so sicher. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber forderte die Absage des Sondergipfels. Laut Stoiber kann der Gipfel „als Signal zum Aufbau kostenintensiver Doppelstrukturen und als Initiative gegen die NATO verstanden werden und sollte deshalb in der jetzt geplanten Form überhaupt nicht stattfinden“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. April 2003).

Für den belgischen Ministerpräsidenten geht es um die Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO: „Wir haben nichts von einer NATO mit einer einzigen Supermacht und 18 großen und kleinen Zwergen, die hinter ihr herlaufen. Wir brauchen eine NATO mit einem starken europäischen Pfeiler neben dem amerikanischen“ (dpa-Meldung vom 28. April 2003).

In einem Interview mit der Londoner Financial Times widersprach dagegen der britische Premierminister Tony Blair der Idee einer „multipolaren“ Weltordnung: „Einige wollen eine sogenannte multipolare Welt, in der man verschiedene Machtzentren hat, aber ich glaube, daß sich diese schnell zu rivalisierenden Machtzentren entwickeln würden.“ Darüber hinaus vertrat Blair die Ansicht, „daß wir (nur) einen Machtpol brauchen“ – die Vereinigten Staaten von Amerika (28. April 2003).

Das falsche Signal zum falschen Zeitpunkt?

Bei ihrem Treffen am 29. April 2003 in Brüssel einigten sich die vier Länder auf die Schaffung einer gemeinsamen Kommandostruktur, die als Grundstein für eine „Europäische Verteidigungsunion“ dienen soll. Nach dem Ende der Beratungen erklärten die Staats- und Regierungschefs Belgiens, Deutschlands, Frankreichs und Luxemburgs, „sie wollten den Kern eines gemeinsamen Planungs- und Führungszentrums für EU-Einsätze ohne Hilfe der NATO“ legen. Darüber hinaus soll „in dieser Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion ... auch eine Beistandsklausel ähnlich wie in der NATO gelten“ (Reuters-Meldung vom 29. April 2003; Hervorhebung durch uns).

In ihrer Erklärung waren die vier Staats- und Regierungschefs bemüht, den Begriff eines „EU-Hauptquartiers“ zu meiden. Statt dessen ging es ihnen um ein Kommando für zukünftige Einsätze der Europäischen Union. Vorgesehen ist die Einrichtung dieser Kommandozentrale bis zum Sommer 2004 im Brüsseler Vorort Tervuren. Mit der Eingliederung belgischer und luxemburgischer Einheiten in die bestehende deutsch-französische Brigade soll die Grundlage einer schnellen Eingreiftruppe geschaffen werden, „die sowohl für Einsätze der NATO als auch für Operationen der EU zur Verfügung stehen soll“ (ebenda).

Interessant ist auch das Vorhaben der vier Länder, die vorgeschlagene EU-Verfassung dahingehend zu ergänzen, um den EU-Ländern, die es sich wünschen, eine engere Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet zu ermöglichen.

Unser Fazit: Unter anderen Vorzeichen hätte das Brüsseler Treffen in der Tat allein als eine Stärkung des europäischen Teils der NATO verstanden werden können. Nach den Querelen innerhalb der NATO vor dem Irak-Krieg ist das Ergebnis der Brüsseler Gespräche das falsche Signal zum falschen Zeitpunkt. Wir sagen voraus: Aus der NATO von heute werden rivalisierende Koalitionen hervorgehen: die USA mit ihren Verbündeten und zumindest ein Teil der EU mit einer eigenständigen Streitmacht.