Das Vaterunser aus der Sicht einer Frau

Fällt es Ihnen schwer zu beten? Wie und worüber sollten wir beten? Was hatte Jesus Christus zu diesem Thema zu sagen? Was können wir von seinem Mustergebet lernen?

Von LeeAnn Luker

Das Vaterunser ist vielen Menschen bekannt. Sie selbst haben es vielleicht schon als Kind auswendig gelernt. Wie oft denken wir aber über die Bedeutung dieser Verse nach?

Das Gebet des Herrn beeindruckte mich wieder einmal sehr stark, als ich es vor kurzem las. Der Autor des Lukasevangeliums berichtet, daß Christus sich von seinen Jüngern entfernt hatte und für sich allein betete. Als er sein Gebet beendet hatte, kam einer der Jünger zu ihm und sagte: „Herr, lehre uns beten“ (Lukas 11,1).

Diesem Mann war das Beten nicht unbekannt, und doch erkannte er, daß Beten ein Lernprozeß ist. Er wollte sein Verständnis über das Gebet – sein Gespräch mit Gott – verbessern. Im Matthäusevangelium wird berichtet, wie Christus gleich zu Anfang erklärte, daß das Gebet eine private Angelegenheit ist. Es sollte nicht als Wettbewerb gesehen werden, wer am schönsten beten kann. Das Gebet ist eine persönliche Kommunikation mit Gott.

„Unser Vater im Himmel“

Jesus erklärte, daß das Gebet eine Bedeutung zum Inhalt haben sollte; nur eine Aneinanderreihung von Worten ist nicht gemeint. Weiterhin sagte er: „Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt“ (Vers 9).

In dem Mustergebet, das Jesus seinen Jüngern gab, fing er mit „unser Vater“ an – nicht „mein Vater“. Gott, der im Himmel wohnt, ist der Vater der Menschheit – der Vater aller Rassen, Völker und Nationen, von jedem Menschen, der je gelebt hat.

Es ist unmöglich für mich, ein Gebet mit „unser Vater“ zu beginnen und mich dann nur auf mich selbst zu konzentrieren. Indem wir „unser Vater“ beten, erkennen wir an, daß Gott der geistliche Vater unserer Familien und Freunde ist und auch der Vater jedes Menschen, mit dem wir vielleicht einen Streit haben. Wir alle sind Kinder Gottes.

Was stellen wir uns vor, wenn wir an Gott als unseren Vater denken? Mein eigener Vater war ein einfacher Mann, der in seinem Leben keinen großen Reichtum erworben hat. Er lehrte mich aber durch sein Beispiel die Prinzipien, die uns Christus lehrte, indem er uns den großen Gott als unseren Vater offenbarte.

Mein Vater zeigte, daß ein Vater jemand ist, der liebt, für einen sorgt, hilft, spielt, lacht, unterstützt, lehrt und wenn nötig ermahnt. Ob ich erfolgreich war oder nur versagt hatte, mein Vater ist immer für mich da gewesen.

Traurigerweise haben nicht alle solche Erfahrungen gemacht. Vielleicht hatten Sie selbst einen Vater, der Sie vernachlässigt oder mißhandelt hat. Möglicherweise sind Sie ohne Vater aufgewachsen. Ich kannte eine Frau, die nicht „unser Vater“ beten konnte, ohne in Tränen auszubrechen, weil ihr Vater sie so mißhandelt hatte. Was für eine Tragödie!

Mit der Zeit erkannte sie, daß es nicht dem Willen Jesu entspricht, wenn wir ein negatives Bild von Gott als unserem Vater haben. Sie bat ihn, ihr dabei zu helfen, ihre schmerzlichen Gefühle zu überwinden. Sie erinnerte sich dann an einen Mann aus ihrer Kindheit, der sie sehr geliebt und respektvoll behandelt hatte – ein verwandter Onkel. Wenn sie an das Wort Onkel dachte, fühlte sie sich geliebt und geehrt. „Onkel Gott“ wurde zu einem Konzept, das ihr half, den liebevollen Gott kennenzulernen, den Christus ihr offenbarte.

Obwohl Christus uns mit Gott bekannt macht und ihn als unseren Vater bezeichnet, benutzte er in seinem Mustergebet andere Begriffe über seinen himmlischen Vater, als er es bei irdischen Eltern getan hätte. Er machte sehr deutlich, daß Gott kein Mensch mit den Verfehlungen eines menschlichen Vaters ist. Christus verkündete einen Vater, der hoch oben wohnt, eine ewige Perspektive besitzt und dessen Vaterschaft von menschlichen Schwächen und egoistischem Verhalten unberührt ist.

Er verkündete einen Vater, der immer für uns da ist, der nie durch Zeit, Raum oder Tod von uns getrennt ist. Mein eigener Vater ist seit mehr als 30 Jahren tot. Obwohl ich heute eine Großmutter bin, brauche ich immer noch die Liebe und den Trost eines Vaters, und Gott stellt diese Liebe jeden Tag reichlich zur Verfügung. Wir sind nie zu alt, um eines Vaters zu bedürfen.

„Geheiligt sei dein Name“

Gottes Name steht für seinen Charakter. Er ist heilig, wie Jesus in seinem Mustergebet anerkennt, weil Gott selbst heilig ist. Wir heiligen seinen Namen, indem wir seinen vollkommenen Charakter erkennen und ihm erlauben, diesen Charakter in uns zu schaffen.

Dieser Vater hat seinen Namen nie beschmutzt, was unendlichen Respekt, Ehre und Anerkennung verdient. Gottes Name soll mit Stolz getragen werden, nicht mit Beschämung. Wir können unseren Kopf aufrecht halten, wenn wir den Namen dieses Vaters tragen. Wir sind die Söhne und Töchter Gottes und sein Name ist jetzt unser eigener. Diesen Namen zu tragen ist sowohl ein Privileg als auch eine riesengroße Verantwortung, deren wir uns ständig bewußt sein müssen und weshalb wir unseren Lebenswandel dem Willen Gottes entsprechend gestalten müssen.

„Dein Reich komme“

Täglich liegen die Beweise auf der Hand, daß der Mensch nicht in der Lage ist, sich selbst zu regieren. Auf jeder Ebene gibt es Probleme – zwischen den Nationen und Kulturen, sogar in den Familien. Das Leben kann sehr entmutigend sein. Mit diesen wenigen Worten jedoch weist Christus uns an, uns auf die Zeit zu konzentrieren, die in Offenbarung 11, Vers 15 erwähnt wird, wenn „die Reiche der Welt unseres Herrn und seines Christus geworden [sind], und er regieren [wird] von Ewigkeit zu Ewigkeit“.

Das Kommen von Gottes Reich ist sicher. Jesus Christus ermutigt uns, sich auf die Realität dieses Ereignisses zu konzentrieren. Ganz gleich welche Umstände zu irgendeiner Zeit im Leben eines Christen existiert haben, hat es doch immer die Hoffnung und das Versprechen in diesen Worten gegeben, daß für die Nachfolger Gottes etwas Größeres kommen wird: das Reich Gottes.

Christus beabsichtigte nicht, daß es bei einem nebulösen Wunschdenken bleiben sollte. Er gab uns die Anweisung, für das Kommen des Reiches Gottes zu beten.

„Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“

Als christliche Frau habe ich erkannt, daß nichts in meinem Leben geschieht, es sei denn, Gott, der Vater, läßt es zu.

Es ist nicht einfach für uns zu akzeptieren, daß denen, die Gott gehorchen, „alle Dinge zum Besten dienen“ (Römer 8,28). Sich Gottes perfektem Willen unterzuordnen und nicht auf dem eigenen Willen zu bestehen ist keine leichte Aufgabe in unserem Leben.

Viel zu oft sehe ich, was rund um den Erdball geschieht, höre die Worte, die um mich herum gesprochen werden, und vergesse dabei, daß mein Leben in den Händen von jemandem liegt, der viel mächtiger ist als ich. Viel größere Kräfte für ein unvorstellbar großes Ziel sind am Wirken – ein Ziel, das wir in unserer begrenzten Vorstellungskraft kaum begreifen können.

Einige Jahre sind in meinem Leben sehr schmerzlich gewesen, voller Prüfungen und Situationen, die ich nicht im entferntesten erwartet hatte. Manchmal ist es sehr schwierig gewesen zu sagen: „Dein Wille geschehe.“ Ich wollte nicht, daß die Dinge so abliefen, wie es zu jener Zeit geschah. Aber indem ich darum bat, daß Gottes Wille geschehe, erinnerte ich mich immer daran, wie ich mich seinem Willen auch unterordnen und die Geschehnisse akzeptieren mußte, die ich nicht ändern konnte.

„Unser tägliches Brot gib uns heute“

Nachdem er unser Herz und unseren Sinn auf ein viel größeres Bild gerichtet hat, weist Christus uns an, für uns selbst zu beten – und für andere. Er sagte nicht: „Gib mir mein Brot.“ Wir werden daran erinnert, unseren Blick über uns hinaus zu richten. Indem wir um die Erfüllung unserer eigenen Bedürfnisse bitten, sollen wir ebenfalls an die Bedürfnisse unserer Mitmenschen denken und daran, was wir tun können, um diese zu erfüllen.

Viele von uns haben nur begrenzte finanzielle Mittel, um anderen helfen zu können, aber uns sind keine Grenzen gesetzt, für sie zu beten. Wenn wir für andere und ihre Nöte oder Bedürfnisse beten, geben wir sie in die Hand des Allmächtigen, dessen Macht, Weisheit und Reichtum unendlich ist.

Im Gebet werde ich an die Zuversicht und das Vertrauen des Apostels Paulus erinnert, der in seinem Brief an die Philipper schrieb: „Mein Gott aber wird all eurem Mangel abhelfen nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus“ (Philipper 4,19).

Gott erfüllt nicht immer alle meine Bedürfnisse – oder die anderer – auf die Weise oder zu der Zeit, wie ich sie erfüllt haben möchte, aber ich habe gelernt, ihm vollständig darin zu vertrauen, mir alles zu geben, was ich wirklich benötige.

„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“

Es gibt vielleicht keinen Vers in der Heiligen Schrift, mit dem ich mehr gekämpft habe, als mit dem Satz „vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“. Doch selbst in schwierigen Zeiten habe ich immer wieder dazu gelernt.

In der Parallelstelle des Mustergebetes in Lukas Kapitel 11 steht: „Vergib uns unsre Sünden“ (Vers 4). Es ist interessant zu sehen, daß der Begriff „Schuld“ gebraucht wird, denn dies ist völlig gerechtfertigt.

Wir alle haben andere verletzt, auf irgendeine Weise, durch unsere Worte oder Handlungen – und schulden ihnen deshalb Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.

Viel zu oft trage ich ein großes Buch bei mir, in dem die Schulden stehen, die andere mir gegenüber haben. Und ich vergesse die Bücher, in denen mein Name steht.

Bevor ich Gott bitten kann, die Schulden zu vergeben, die ich bei anderen habe – auch bei Gott –, muß ich die Namen in dem Buch löschen, das ich mit mir herumtrage.

Das bedeutet nicht, daß Gott die Namen dieser Menschen aus seinem Buch gelöscht hat, aber das ist eine Sache zwischen ihnen und ihm. Ich muß jedoch die Schulden loslassen und sie einfach als Angelegenheit zwischen der anderen Person und Gott belassen.

Noch einmal: Sobald Christus uns anweist, für die Vergebung „unserer Schuld“ zu bitten, erinnert er uns daran, über uns selbst hinaus zu schauen, was eine enorme Herausforderung für die meisten Menschen ist, die ihr Bestes geben, Gott zu gehorchen.

Die Person, der ich schwer vergeben kann, hat vielleicht dasselbe Problem. Wenn ich aber für diese Person bete, ist es viel leichter für mich, ihren Namen aus meinem Buch zu streichen.

„Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“

Die Bibel versichert uns, daß Gott uns nicht in Versuchung führt (Jakobus 1,13). Warum sollten wir also beten „Und führe uns nicht in Versuchung“?

Es geht hier darum, daß man durch eine Zeit der Prüfung geführt wird – eine Zeit extremer Schwierigkeiten –, um zu bestimmen, wem unsere Loyalität gilt und wo unsere Prioritäten letztendlich liegen.

Wenn wir uns von Gott entfernen, kann er bestimmte Situationen im Leben zulassen und unserem Feind, Satan dem Teufel, erlauben, uns so zu prüfen, daß wir wieder daran erinnert werden, wie sehr wir Gott brauchen.

Durch die Bitte „Führe uns nicht in Versuchung“ – oder eine schwere Zeit der Prüfung – könnten wir auch zu Gott sagen: „Hilf uns, unsere Lektionen jetzt zu lernen, damit wir nicht durch eine Zeit der großen Trauer und Schwierigkeiten gehen müssen, um sie zu begreifen.“

Natürlich erfordert dies unsere Befreiung von der Macht und dem Einfluß Satans. Er ist immer darauf aus, uns daran zu hindern, Gottes Wegen zu folgen. Deshalb beten wir, von ihm befreit zu werden – von seinen Verführungen und mächtigen Einflüssen, die uns in der Vergangenheit viel zu negativ geformt haben.

Glücklicherweise können wir uns durch die Kraft Gottes und durch die Nähe von dem Einfluß des „Bösen“ loslösen. Wir werden daran erinnert, daß wir heute erleben können, was in Zukunft das Geschenk an die ganze Menschheit sein wird – die Errettung von den Fesseln unseres Widersachers.

„Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“

Manchmal werde ich sehr müde, und der Gedanke an die Macht und Herrlichkeit Gottes erscheint wie ein Märchen – zu gut, um wahr zu sein. In dem Elend dieser Welt ist es oft schwer, Gottes Macht und Herrlichkeit zu erkennen.

Ab und zu passiert jedoch etwas, das uns einen winzigen Einblick gibt. Es ist, als ob man durch ein Kaleidoskop schaut und für einen kurzen Augenblick in der Zukunft etwas so Schönes sehen kann, daß es einem den Atem verschlägt.

Christus erinnert uns daran, jeden Tag durch das Kaleidoskop zu sehen, um über das Elend des Hier und Jetzt hinweg zu schauen. Er möchte, daß wir an dieser Zukunftsvision festhalten und daran glauben. Eine bessere Zeit wird definitiv kommen!

„Amen“

So sei es! Jesus beendete sein Mustergebet mit einem Wort, das sehr leicht von unseren Lippen kommt und über das wir so selten nachdenken.

Es ist eine formelle Endung, eine Vervollständigung. Wir haben das Privileg, vor dem Thron des großen Schöpfers des Universums zu erscheinen, um unser Herz auszuschütten. Wir können unserem himmlischen Vater sagen: „Laß es so sein.“

Amen.