Archäologie und 2. Mose:
Die Befreiung der Israeliten

Seit Generationen gehört die Geschichte von Israels Befreiung von der Sklaverei in Ägypten zu den beliebtesten Erzählungen für Bibelkenner. Was hat die Archäologie über das antike Ägypten entdeckt?

Von Mario Seiglie

In der letzten Ausgabe haben wir archäologische Funde besprochen, die Teile des ersten Buches Mose beleuchten. Wir setzen unsere Serie über Entdeckungen, die neues Licht auf die Bibel werfen, mit einem Beitrag zum zweiten Buch Mose, dem zweiten Buch der Bibel, fort.

Im Hebräischen heißt dieses Buch „Namen“, nach den Anfangsworten „Dies sind die Namen der Söhne Israels, die mit Jakob nach Ägypten kamen.“ In der abendländischen Tradition wird es aber Exodus genannt. Exodus ist die lateinische Form des griechischen Wortes exodos, das einfach „Ausgang“ oder „Auszug“ bedeutet (ex = aus, hodos = Weg). Der Name Exodus sagt mehr zum Inhalt des Buches aus, das bekanntlich von dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, einem gigantischen Kampf zwischen zwei ungleichen Kontrahenten, handelt. Die eine Partei war ein Volk von unterdrückten Sklaven, die andere das mächtigste Volk des Nahen Ostens bzw. der ganzen damaligen Welt. Aus rein menschlicher Sicht hatten die Israeliten keinerlei Chance, gegen Ägypten zu bestehen.

Dieses Mal wollen wir der Frage nachgehen, was denn die Archäologie zum Aufenthalt der Israeliten in Ägypten und zu ihrem Auszug aus dem Lande der Sklaverei zutage gefördert hat. Den Wissenschaftlern sind bedeutsame Entdeckungen geglückt, die den Bericht des zweiten Buches der Bibel als zuverlässig aufzeigen werden.

Die Herstellung von Ziegelsteinen in Ägypten

Im „Buch des Auszugs“ (2. Buch Mose) wird berichtet, dass die Ägypter die Israeliten zwangen, prachtvolle Städte zu bauen: „Und man setzte Fronvögte über sie, die sie mit Zwangsarbeit bedrücken sollten. Und sie bauten dem Pharao die Städte Pitom und Ramses als Vorratsstädte“ (2. Mose 1,11).

Die steinernen ägyptischen Pyramiden sind uns ein Begriff, doch nur wenigen Menschen ist bekannt, dass manche der ägyptischen Pyramiden aus Ziegelsteinen bestehen. Ziegel waren der Hauptbaustoff im damaligen Ägypten. So lesen wir in der International Standard Bible Encyclopedia Folgendes: „Durch die ganze ägyptische Geschichte hindurch waren sonnengetrocknete Ziegel das am häufigsten verwendete Baumaterial. Steine wurden nur für Tempel und andere Prachtbauten benutzt“ (Band 1, Seite 546).

Der Bedarf der Ägypter an Ziegelsteinen war entsprechend hoch, und die Israeliten mussten lange und hart arbeiten, um die Nachfrage zu befriedigen. Wie es im zweiten Buch Mose heißt: „Da zwangen die Ägypter die Israeliten unbarmherzig zum Dienst und machten ihnen ihr Leben sauer mit schwerer Arbeit in Ton und Ziegeln und mit mancherlei Frondienst auf dem Felde, mit all ihrer Arbeit, die sie ihnen auflegten ohne Erbarmen“ (2. Mose 1,13-14; alle Hervorhebungen von uns).

Als Mose und Aaron dem Pharao mitteilten, Gott habe seinem Volk befohlen, die Arbeit zu unterbrechen, um ein religiöses Fest in der Wüste zu feiern, wurde Pharao wütend. Anstatt sie freizugeben, steigerte er ihr Arbeitspensum: „Darum befahl der Pharao am selben Tage den Vögten des Volks und ihren Aufsehern und sprach: Ihr sollt dem Volk nicht mehr Häcksel geben, dass sie Ziegel machen, wie bisher; lasst sie selbst hingehen und Stroh dafür zusammenlesen“ (2. Mose 5,6-7). Durch diese grausame Maßnahme wurde der Frondienst der Israeliten noch härter. Sie mussten in die Felder ausschwärmen, um Stroh zu sammeln, das bei der Ziegelherstellung mit dem Lehm zu vermischen war.

Stroh bei der Ziegelherstellung zu verwenden, wie hier in der Bibel angegeben, scheint heute unvorstellbar. Inzwischen ist es jedoch eine erwiesene Tatsache, dass eine Mischung aus Lehm und Stroh bei der Herstellung von Ziegeln in Ägypten benutzt wurde. Durch das Stroh wurde die Sprung- und Biegefestigkeit sowie die Tragfähigkeit der Ziegel verbessert. Neuerliche Versuche haben ergeben, dass die Festigkeit von Lehmziegeln sich verdreifacht, wenn bei ihrer Herstellung Stroh beigemischt wurde. Stroh sondert Huminsäure ab und härtet damit den Lehm (siehe Gerald Vardaman, Archaeology and the Living Word, 1966, Seite 37). Man findet noch heute jahrtausendealte Denkmäler in Ägypten, deren Bausteine Ziegel aus Lehm und Stroh sind.

Die zehn Plagen

Dank der Wissenschaft der Ägyptologie sind wir inzwischen in der Lage, den biblischen Bericht der Plagen über Ägypten, die letztlich zum Auszug der Israeliten aus ihrem Land führten, besser als frühere Generationen zu verstehen.

Die Ägypter waren ein „frommes“ Volk. Für alles hatten sie einen Gott, den sie auch eifrig anzubeten pflegten. Allein 39 führende Gottheiten sind uns heute bekannt, die auf Bildern als Mischung zwischen Mensch und Tier dargestellt sind. In den ägyptischen Tempeln hüteten die Priester heilige Tiere, die für sie Götter darstellten.

In einer Hinsicht war der Auszug der Israeliten aus Ägypten eine Konfrontation zwischen dem wahren Gott Jahwe und den Abgöttern des Landes. Der Schlagabtausch sollte den Israeliten unmissverständlich vor Augen führen, wer der wahre Gott und welches die wahre Religion ist. Es ging Gott nicht allein darum, sein Volk aus Ägypten zu befreien, sondern die Israeliten auch davon abzuhalten, die angeblich mächtigen ägyptischen Gottheiten anzubeten. Dies erkennt man an der Ankündigung, die er Mose mit den Worten machte: „[Ich] will in derselben Nacht durch Ägyptenland gehen und alle Erstgeburt schlagen in Ägyptenland unter Mensch und Vieh und will Strafgericht halten über alle Götter der Ägypter, ich, der Herr“ (2. Mose 12,12).

Nachdem die Konfrontation vorbei war, lesen wir davon, dass „der Herr . . . an ihren Göttern Gericht geübt“ hatte (4. Mose 33,4). Jede der zehn Plagen, die Gott gegen Ägypten sandte, war gegen eine der ägyptischen Gottheiten gerichtet, die angeblich die Macht über einen bestimmten Bereich der Natur innehatte. Zusammengenommen waren diese zehn Plagen ein eindrucksvolles Zeugnis für Ägypter und Israeliten, welches bewies, dass diese Götter nichtig waren und niemandem Hilfe geben konnten.

Aus einem alten ägyptischen Kalender ist zu erkennen, dass viele Tage des Jahres bestimmten Göttern geweiht waren. Nur wenige Werktage ohne Bezug zu einer dieser Gottheiten blieben übrig. Einer der Gründe, warum der Pharao so zornig auf Mose war, als dieser ihm die Absicht Israels eröffnete, ein paar Tage auszusetzen, um in die Wüste zu ziehen und ein Fest zu Ehren Gottes zu feiern, war wohl auch darin zu sehen: „Ich weiß nichts von dem Herrn, will auch Israel nicht ziehen lassen . . . Mose und Aaron, warum wollt ihr das Volk von seiner Arbeit frei machen? Gehet hin an eure Dienste!“ (2. Mose 5,2. 4). Somit weigerte er sich, sie ziehen zu lassen. Auf diese Widerspenstigkeit des Pharaos folgte eine Handlung des wahren Gottes.

Die Plagen gegen die Gottheiten

Die erste Plage zielte auf die ehrwürdigste und wertvollste Wohlstandsquelle der ägyptischen Zivilisation, den mächtigen Nil, und die Götter, mit denen die Ägypter ihn verbanden. Von den alljährlichen Überflutungen der Felder durch den Nil und der dadurch verursachten Ablagerung von Schwemmsand hing die Nahrungsmittelversorgung der ägyptischen Bevölkerung ab. Blieb die Überflutung mal aus wie zu Josefs Zeiten, entstand eine Hungersnot. Daher kann man die Gewohnheit der damaligen Ägypter verstehen, zu ihren Göttern für das Wohl des Nils zu beten. Das erste Strafgericht des wahren Gottes traf diesen Nerv des ägyptischen Volkes, indem es das Nilwasser faul und ungenießbar machte. Auch die darin schwimmenden Fische, eine weitere Nahrungsquelle, kamen um.

Die Ägypter verließen sich hinsichtlich des Schutzes des Nils auf die Nilgöttin Hapi und den mächtigen Osiris. Aber ihre verzweifelten Gebete um die Reinigung des Nils verhallten ungehört. Erst als Mose und Aaron zum wahren Gott beteten, wurde das Wasser wieder sauber. Dennoch blieb der Pharao unbeugsam. Er bildete sich ein, sich auf ein mächtiges Heer von Göttern verlassen zu können, das ihm jeden Wunsch erfüllen werde. Er wurde ja selbst als ein Gott von den Ägyptern verehrt.

Zielscheibe der zweiten Plage war eine Tierart, die im Bewusstsein der Ägypter in engem Zusammenhang mit dem Nil stand: der Frosch. Die Ägypter beteten den Frosch in Gestalt des Gottesbildes Hekt an, dessen Statue den Kopf eines Frosches trug. Dieser Gott stand für gute Ernten in diesem Leben und für Segnungen im Jenseits. Viele Frösche wurden ans Land geschwemmt, wenn der Wasserstand des Nils ein bestimmtes Niveau erreichte. Gab es sie in Hülle und Fülle, konnte man mit einer reichen Ernte rechnen. Außerdem sorgten die Frösche dafür, dass die Insekten nicht überhandnahmen. Gab es aber aufgrund des niedrigen Nilwasserstandes wenig Frösche, stellte man sich auf einen Mangel an Schwemmsand, eine magere Ernte und eine Insektenplage ein.

Hekt – so hieß der Froschgott – galt als Regler der Froschbevölkerung. Als die zweite Plage von Gott hereinbrach und die Frösche überhandnahmen, hatte für die Ägypter der Froschgott die Gewalt über sein Reich verloren. Dass ihre Gebete und Weihrauchgaben keine Wende brachten, wird diesen Eindruck nur noch gestärkt haben. Erst mit dem Eingreifen des wahren Gottes und dem Tod der Frösche fand die Krise ein Ende.

Bei der dritten und vierten Plage wurde mit einem weiteren Lieblingsgötzen der Ägypter abgerechnet, nämlich mit Keper, dem Mistkäfergott, häufig auf Amuletten abgebildet. „Der Fliegen- und Käferkult war ein wesentlicher Bestandteil der alten ägyptischen Religion“, heißt es im Bibelkommentar von Jamieson, Fausset und Brown (Exegetical Commentary of the Bible, Band 1, Seite 67). „Verschiedene Käfer wurden in Ägypten verehrt. Unter ihnen galt der Mistkäfer als Symbol der Auferstehung und einer fortgesetzten Existenz“ (The Interpreter’s Dictionary of the Bible, Band 4, Seite 258).

Als Stechmücken ihr Unwesen trieben, flehten die Hofzauberer den Insektengott um Abhilfe an, doch ohne Erfolg. Erst nachdem der Pharao Mose gebeten hatte, bei Gott Fürbitte einzulegen, hörte das Unheil auf.

Der heilige Bulle

Die nächste Plage traf das Vieh, das nach Meinung der Ägypter unter der Herrschaft von Apis, dem Bullengott, und Hathor, der kuhähnlichen Muttergöttin, stand. Der Bulle galt als heiliges Tier. Starb ein Tempelbulle, wurde er mumifiziert und in einem prunkvollen Festakt beigesetzt. Die fünfte Plage schlug gegen diesen Kult ein: „Da starb alles Vieh der Ägypter, aber von dem Vieh der Israeliten starb nicht eins“ (2. Mose 9,6). Wiederum konnten auch die inbrünstigsten heidnischen Gebete nichts ausrichten.

Als Nächstes kam die Plage der Pocken. Die Ägypter meinten, dieser Plage mit Hilfe ihres Gottes der Heilkunde, des Imhotep, beizukommen. Bei Imhotep handelte es sich um einen Arzt, der nach und nach vergöttlicht wurde. Auch Thoth, den Gott des Zaubers und der Heilkunde, verehrten die Ägypter. Aber auch in diesem Fall ließ das Unheil nicht nach. Schlimmer noch: Die Hofzauberer, die diese Götzen um Hilfe anflehten, wurden selbst mit Pocken überzogen (Vers 11).

Wiederum mussten der Pharao und andere Ägypter zu Mose kommen und ihn bitten, bei Gott für sie einzutreten. Die Fähigkeit Gottes, diese Plage aufzuheben, diente nicht nur den Ägyptern und Israeliten, sondern auch der ganzen Menschheit zum Zeugnis. Wie Gott zum Pharao sprach: „[Ich] hätte schon meine Hand ausrecken und dich und dein Volk mit Pest schlagen können, dass du von der Erde vertilgt würdest, aber dazu habe ich dich erhalten, dass meine Kraft an dir erscheine und mein Name verkündigt werde in allen Landen“ (2. Mose 9,15-16). Dieses Zeugnis bleibt uns heute durch den biblischen Bericht.

Opfer des siebten und achten Strafgerichts waren die ägyptischen Ernten. Alles Gewächs, das einen heftigen Hagelsturm überstand, wurde von Heuschrecken gefressen. Beschützer der Nutzpflanzen war angeblich der Erntegott Seth, während die Göttin Nut für die Abwehr von Wetterkatastrophen verantwortlich war. Doch irgendwie hatten sie wohl die Beschwörungen ihrer ägyptischen Schützlinge überhört. Des Pharaos Vorrat an Schutzgöttern ging zusehends zur Neige.

Die Mächtigsten werden gestürzt

Die letzten beiden Plagen richteten sich gegen die mächtigsten Götter der Ägypter. Das waren Ra, der oberste Gott, dessen Symbol die Sonne war, und der Pharao selbst.

In der Vorstellungswelt der Ägypter galt Ra als Quelle des Lebens, die der Erde Licht und Wärme spendete. Drei Tage lang hüllte die neunte Plage das Land in völlige Finsternis. Diese Finsternis war dem Zeugnis der Schrift nach so intensiv, dass selbst Leuchten nichts ausrichten konnten. Auf die Gebete der Ägypter an ihren Gott Ra erfolgte keine Reaktion des Sonnengottes.

Der letzte Gott, den es zu demütigen galt, war der Pharao selbst, dessen Herkunft sich angeblich von dem Gott Ra ableitete. Die Schutzgötter Pharaos waren Osiris, der Richter der Toten, und Horus, der Gott des Lichtes. Die ägyptische Verehrung der Pharaonen fand ihren Niederschlag im Bau der großen Pyramiden, die den Herrschern als letzte Ruhestätte dienten. Die zehnte und letzte Plage galt nicht nur dem Mensch-Gott Pharao, sondern auch seinen Nachkommen.

Der Pharao konnte den Tod seines eigenen Erstgeborenen, der dazu ausersehen war, seine Nachfolge als Gott der Ägypter anzutreten, nicht verhindern. „Und zur Mitternacht schlug der Herr alle Erstgeburt in Ägyptenland vom ersten Sohn des Pharao an, der auf seinem Thron saß, bis zum ersten Sohn des Gefangenen im Gefängnis“ (2. Mose 12,29). Nach der Entmachtung und Entblößung seiner Götter lenkte der mächtige Pharao endlich ein. Der Auszug der Israeliten konnte beginnen.

In der nächsten Ausgabe werden wir weiteres Hintergrundmaterial aus der Archäologie besprechen, das die geschichtlichen Berichte des zweiten Buches Mose erhellt.