Amerikas Kulturkampf: Werte nach außen ohne Werte im Innern?

Amerikas Kampf gegen den Terrorismus wird größtenteils im Ausland geführt. Ein Kampf einer ganz anderen Art wird daheim in Amerikas Gerichtssälen geführt. Wohin führt dieser Kampf der Kulturen?

Von Paul Kieffer und Darris McNeely

Im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Landung alliierter Truppen in der Normandie berief sich US-Präsident George W. Bush auf den „Geist von 1944“ in dem Bemühen, das größte Landungsunternehmen der Geschichte, mit dem das Ende des Hitler-Regimes besiegelt wurde, mit dem völkerrechtswidrigen Überfall auf den Irak 59 Jahre später zu verbinden. Sein Versuch einer Rehabilitation der moralischen Glaubwürdigkeit seines Landes durch diese gewollte Verknüpfung löste vielerorts Erstaunen aus. Statt Frieden und eine bessere Situation wie damals in Europa zu schaffen, hat das amerikanische Abenteuer in Irak „den explosiven Nahen Osten weiter destabilisiert und den Kampf gegen den Terror, die heutzutage größte Bedrohung von Freiheit und Demokratie, noch schwieriger gemacht“ (Nürnberger Nachrichten, 5. Juni 2004).

„D-Day“ war nicht der erste Anlaß, der den US-Präsidenten zu diesem Vergleich bewegte. Während eines Staatsbesuchs Anfang des Jahres in Großbritannien erinnerte er seine Gastgeber, in Anspielung auf die Zusammenarbeit im Irak, an die militärische Allianz zwischen Briten und Amerikanern, die im 20. Jahrhundert die Schlacht für Demokratie in Europa geschlagen hatte. In der Tat war jener Kampf gegen Diktatur und Tyrannei, so meinte Thomas Mann rückblickend, „eine seelisch gute, weil moralisch eindeutige Zeit gewesen“ (Süddeutsche Zeitung, 4. Juni 2004).

Demokratie sollte auch den Irakern beschert werden. Als US-Truppen im April 2003 in Nadschaf unter dem Jubel der Bewohner einzogen, antwortete ein Iraker auf die Frage, was er sich durch den Einmarsch der Amerikaner wohl versprechen würde: „Demokratie. Whisky. Und Sex.“

Der evangelikale Prediger Charles Colson, früherer Mitarbeiter im Präsidialamt von Richard Nixon, prangerte kürzlich die weite Verbreitung von Pornographie und Betäubungsmitteln im neuen Irak an. Der eine von den drei gewünschten Exportartikeln hingegen, dessen Einführung die Bush-Administration u. a. als Legitimation für ihr Vorgehen gegen Saddam Hussein angab, ist noch nicht in Bagdad angekommen.

Den „Geist von 1944“ zu bemühen erscheint fast wie ein Hohn, seitdem die Digitalphotos von Mißhandlungen im Bagdader Abu Ghraib Gefängnis im Umlauf sind. Das dadurch lädierte Ansehen der westlichen Führungsmacht „trifft nicht nur die Autorität Amerikas, sie trifft das Ansehen des westlichen Liberalismus im Ganzen ... Warum? Weil Amerika der Vorreiter des Westens ist und alle entscheidenden Werte mit ihm teilt. Viele, die den Angriffskrieg auf den Irak abgelehnt hatten, waren gleichwohl davon überzeugt, der von den Vereinigten Staaten verkörperte Liberalismus besitze trotz aller Rechtsbrüche ,im Grunde seines Herzens‘ eine normative Wahrheit, auf die sich alle, der ganze Westen, berufen dürfen“ („Schlagschatten der Freiheit“, Thomas Assheuer, Die Zeit, Nr. 25, 9. Juni 2004; Hervorhebung durch uns).

Welche „normative Wahrheit“ bestimmt die moralischen Werte Amerikas? Wie kann ein Land in seiner Außenpolitik moralische Werte vertreten, wenn es diesbezüglich innerlich zerstritten ist?

Moral und Gesetzgebung im Wandel der Zeit

Amerika im Jahr 2004 ist ein moralisch geteiltes und widersprüchliches Land. Generell zeichnen sich zwei große Kulturen ab, freilich mit diversen Varianten: Die eine ist weitgehend ländlich, konservativ und religiös, während die andere eher städtisch, liberal und säkular ist. Die Kluft zwischen diesen Kulturen sieht man besonders dann, wenn es um moralische Fragen in der Gesetzgebung bzw. in der Interpretation bestehender Gesetze in bezug auf ihre Konformität mit der US-Verfassung geht.

Nur wenige Wochen vor dem Staatsbesuch von Präsident Bush in London entschied das Oberlandesgericht des Bundesstaates Massachusetts, daß gleichgeschlechtlichen Paaren das Recht auf eine standesamtliche Eheschließung zusteht. Das mit knapper Mehrheit getroffene Urteil, das sich über die übergeordnete Bundesgerichtsbarkeit und die Gesetzgebung aller anderen Bundesstaaten hinwegsetzte, schuf praktisch eine neue Definition der Ehe.

Es dauerte nicht lange, bis die Entscheidung der Richter in Massachusetts als undemokratisch kritisiert wurde. An den Oberlandesgerichten der USA werden Richter nämlich nicht gewählt, sondern ernannt. Diverse Umfragen zeigen übereinstimmend, daß eine Mehrheit der US-Amerikaner bei der Definition der Ehe eine andere Meinung vertritt als die Massachusetts-Oberlandesrichter. Darin sehen sie ausschließlich einen Bund nach biblischem Muster zwischen Mann und Frau, statt zwischen zwei Männern bzw. zwei Frauen. So läuft bereits eine landesweite Bürgerinitiative mit dem Ziel, einen Zusatz zur US-Verfassung durchzusetzen, der die Ehe als zivilrechtliche Gemeinschaft im biblischen Sinne definieren soll.

Die Frage, die sich in solchen Fällen stellt, ist: Soll eine biblisch orientierte Sicht der Dinge die Gesetzgebung oder die Interpretation von Gesetzen beeinflussen? Den Gründervätern der USA wäre die Frage wohl ein wenig merkwürdig vorgekommen.

Vor einem Jahr ordnete ein Bundesrichter die Entfernung eines Monumentes mit dem Text der Zehn Gebote aus dem Hauptlandesjustizgebäude des Bundesstaates Alabama an. Zuvor hatte Roy Moore, oberster Richter an dem Oberlandesgericht in Alabama, sich monatelang einer einstweiligen Verfügung eines Bundesgerichts widersetzt, das Monument aus dem Gebäude zu entfernen. Mit dem richterlichen Befehl endete ein aufwendiger Gerichtsstreit, in dem Richter Moore wiederholt das Aufstellen des Denkmals durch das Anführen von Beispielen verteidigte, die den Einfluß der christlichen Religion auf die Gründerväter der USA und die frühe amerikanische juristische Tradition untermauerten.

Unter einer Vielzahl von einschlägigen Zitaten und Schriftstücken der Gründerväter hatte Richter Roy Moore keine große Mühe, Beispiele für seine Argumentation zu finden. Amerikas erster Präsident, George Washington, meinte: „Ohne Gott und die Bibel ist es unmöglich, die Welt recht zu regieren.“ Washingtons Nachfolger John Adams schrieb, daß die amerikanische Verfassung „nur für ein moralisches und religiöses Volk gemacht wurde ... und für die Regierung irgendeines anderen Volkes völlig unzulänglich ist“ (America’s God and Country Encyclopedia of Quotations, herausgegeben von William Federer, 1996, Seite 10-11).

Adams Freund Thomas Jefferson, Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und nach Adams der dritte US-Präsident, meinte in bezug auf seine Amtsführung: „Die christliche Religion ist die beste, die dem Menschen jemals gegeben wurde. Als oberster Staatsdiener dieses Landes bin ich verpflichtet, sie durch mein persönliches Beispiel zu billigen“ (zitiert von David Limbaugh, Persecution: How Liberals Are Waging War Against Christianity, 2003, Seite 320). Ein Vierteljahrhundert zuvor hatte Jefferson zum Schluß der Unabhängigkeitserklärung geschrieben: „Zur Behauptung und Unterstützung dieser Erklärung verpfänden wir, mit festem Vertrauen auf den Schutz der göttlichen Vorsehung, uns untereinander unser Leben, unser Vermögen und unser geheiligtes Ehrenwort“ (Hervorhebung durch uns).

Im 19. Jahrhundert, ca. 60 Jahre nach der Zeit der Gründerväter, besuchte der französische Historiker Alexis de Tocqueville Amerika. Er beschrieb die allgemeine religiöse Überzeugung der Gesellschaft, die er vorfand: „Für die Amerikaner sind das Christentum und die Freiheit derart miteinander verflochten, daß es ihnen fast unmöglich ist, sich das eine ohne das andere vorzustellen ... die Religion muß als erste ihrer politischen Institutionen gesehen werden ... ich weiß nicht, ob der Glaube aller Amerikaner an ihre Religion ernsthaft ist – denn wer kann das Herz des Menschen erforschen? –, aber ich bin überzeugt, daß sie bei der Aufrechterhaltung republikanischer Institutionen die Religion für unentbehrlich halten“ (Democracy in America, Band 1, Seite 316).

Widersprüchlicher Umgang mit der Verfassung

Die Entscheidung gegen Richter Moore wurde mit dem ersten Zusatz zur amerikanischen Verfassung und seiner „Trennung von Staat und Religion“-Klausel begründet. Darin heißt es wörtlich: „Der Kongreß darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Mißständen zu ersuchen.“

Für die Gründerväter bedeutete eine „Staatsreligion“ eine staatlich geförderte oder sanktionierte Kirche. Man darf nicht vergessen, daß unter den ersten Siedlergenerationen aus Europa auch solche Christen waren, die wegen ihrer Weigerung, sich der Staatskirche anzuschließen, verfolgt worden waren. Aus den bereits angeführten Zitaten geht hervor, daß die Gründerväter der USA christlichen Glaubens waren und den Einfluß dieser Religion auf die Handlungen des Staates voraussetzten. Heute legt man die US-Verfassung anders aus, zumindest teilweise.

Die Klage gegen Roy Moores „Zehn Gebote“-Denkmal in einem öffentlichen Justizgebäude erhob das „Southern Poverty Law Center“ mit dem Argument, das Monument käme einer staatlichen Anerkennung des Christentums gleich. Im Jahre 2000 verbot der Oberste Gerichtshof der USA das öffentliche Gebet vor einem Football-Spiel zweier Schulmannschaften. Vor Spielbeginn hatte ein Kaplan das Lautsprechersystem einer der Schulen benutzt, um ein Gebet zu sprechen.

Daran nahmen einige Schüler Anstoß und verklagten die Schulbehörde. In dem Fall Santa Fe Independent School District vs. Doe erklärte das Gericht die Richtlinie der Schulbehörde für verfassungswidrig, wonach Gebet vor schulischen Aktivitäten erlaubt war. Die Richter verfügten, daß Schüler keinem „religiösen Ritual“ ausgesetzt werden sollten, „an dem sie persönlich Anstoß nehmen“.

Der oberste Richter am Obersten Gerichtshof, William Rehnquist, kommentierte die Entscheidung seiner Kollegen folgendermaßen: „Noch beunruhigender als das Urteil selbst ist der Ton desselben; es strotzt nur von Feindseligkeit gegenüber allen religiösen Dingen im öffentlichen Leben. Weder das Urteil selbst noch dessen Ton wird der Bedeutung des ersten Zusatzes zur Verfassung gerecht.

Man darf daran erinnern, daß kein geringerer als George Washington auf die Bitte des Kongresses hin, der die ersten zehn Zusätze zur Verfassung – die sogenannten ,Grundrechte‘ – gerade verabschiedet hatte, einen Tag der ,öffentlichen Danksagung und des Gebets‘ ausrief, ,den man mit dankbarem Herzen für die zahlreichen und besonderen Gunsterweisungen durch den allmächtigen Gott begehen‘ sollte“ (Limbaugh, Seite 23-24).

Die widersprüchliche Haltung des Obersten Gerichtshofs in dieser Frage erkennt man an einem Urteil, das Mitte Juni 2004 gefällt wurde. Darin erklärte das Gericht die Klage eines Atheisten gegen den Wortlaut des Treuegelübdes auf die amerikanische Fahne für unzulässig. Das Gelübde enthält die Worte „eine Nation unter Gott“ und wird vielerorts zu Beginn des Schulunterrichts aufgesagt. Mit seinem Urteil widersprach der Oberste Gerichtshof der Entscheidung eines Bezirksgerichts in Kalifornien, das der Klage stattgegeben hatte.

Die Widersprüchlichkeit in der täglichen Praxis zeigt sich durch das Gebet, mit dem jede Arbeitssitzung eines bundesstaatlichen Landtags und des Kongresses in Washington eröffnet wird. Das Oberlandesgericht von Alabama eröffnet alle seine Sitzungen mit dem Wort „Gott rette diesen Bundesstaat und dieses ehrenwerte Gericht“. Auf den Münzen und Geldscheinen Amerikas steht das Wort „Auf Gott vertrauen wir“. Bei alledem wirkt die verneinende Antwort auf die Frage „Darf der Staat Gott anerkennen?“ von Bundesrichter Myron Thompson, der die Entfernung des „Zehn Gebote“-Denkmals anordnete, ein wenig praxisfremd.

Moralische „Werte“ ohne Moral?

Welche „normative Wahrheit“ bestimmt die Moral Amerikas? Wie definiert man überhaupt eine „normative Wahrheit“? In den letzten ca. 40 Jahren haben gerichtliche Entscheide, bei denen es um die Rechtsauslegung oder Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ging, wiederholt moralische Maßstäbe gesetzt. Die Richter, die bei diesen Urteilen mitwirkten, hatten in der Mehrheit ein anderes Verständnis vom ersten Zusatz zur Verfassung als diejenigen, die ihn vor mehr als 200 Jahren schrieben bzw. verabschiedeten.

Mit welchem Resultat? Die jüdisch-christliche Tradition, auf die sich das öffentliche Bildungswesen der USA ursprünglich gründete, ist weitgehend aus den Schulen verbannt worden. Dazu nochmals der Sozialkritiker David Limbaugh: „Das Bildungswesen widersetzt sich vehement der Verbreitung irgendeines Wertes bzw. jeglicher Anschauung in Schulen, die auch nur im entferntesten auf die Bibel zurückzuführen wäre. Statt dessen bejaht es andere Werte, die manche Christen widerlich finden. Öffentliche Schulen sind angefüllt mit Werte vermittelnden Lehrplänen, von Sexualkundeunterricht und Sexualorientierung bis hin zu Vorstellungen über das Selbstwertempfinden und Erziehung über das Wesen des Todes“ (Limbaugh, Seite 4).

Als Beispiel der neuen „normativen Wahrheit“ in bezug auf den Begriff Familie schaffte die Schuldirektorin einer elitären Privatschule in Manhattan besondere Aktivitäten zum Mutter- und Vatertag ab: „Wir ... müssen für die emotionale Gesundheit unserer Kinder an der Schule eintreten ... Die Anerkennung dieser Feiertage in einem sozialen Rahmen ist heute nicht unbedingt mehr eine positive Erfahrung für alle Kinder. Familien ändern sich ... Einige haben vielleicht zwei Väter [oder] zwei Mütter“ (New York Post, 8. Mai 2001; Hervorhebung durch uns). Die Gerichte Amerikas haben sich anscheinend noch nicht mit der Frage befaßt, ob ein Kind ein Recht auf eine natürliche Familieneinheit mit Vater und Mutter hat.

Gerichtsurteile können die Moral beeinflussen oder sogar bestimmen, wo es in der Sache überhaupt kein einschlägiges Gesetz gibt. 1973 untersagte der Oberste Gerichtshof der USA in dem Fall Roe vs. Wade US-Bundesstaaten den Zugriff in die Privatsphäre von Frauen durch ein generelles Verbot der Abtreibung. Das Gericht begründete seine Entscheidung mit dem 14. Zusatz zur US-Verfassung.

Weder die Verfassung noch der 14. Zusatz zur Verfassung erwähnen jedoch Abtreibung noch ein „Recht auf Privatsphäre“, auf dem das Gerichtsurteil beruht. Bis heute hat kein Landtag noch der US-Kongreß ein Gesetz erlassen, das die Abtreibung auf eine gesetzlich verankerte Grundlage stellt. Abtreibung in Amerika wird deshalb nicht mehr strafrechtlich verfolgt, weil der Oberste Gerichtshof in seiner Interpretation der Verfassung ein Verbot der Abtreibung ausgeschlossen hat.

Diese Rechtsauslegung hat zur sogenannten „Abtreibung auf Verlangen“ geführt. Seit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vor 31 Jahren sind in den USA mehr als 40 Millionen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt worden.

Sieg der amerikanischen Popkultur

Den meisten Europäern erscheint Amerika immer noch als ein vergleichsweise „religiöses“ Land. Wie kommt es, daß der Glaube zunehmend aus dem öffentlichen Leben Amerikas und seinen Institutionen ausgeschaltet wird? Rechtsauslegungen von Richtern sind nicht der einzige Grund. Richter sind schließlich selbst das Produkt der Gesellschaft, in der sie leben. In der Demokratie ist es letztendlich das Volk selbst, das die moralischen Normen der Gesellschaft vorgibt.

Nach dem gescheiterten Amtsenthebungsverfahren 1999 gegen den ehemaligen Präsidenten Bill Clinton schrieb Paul Weyrich, eine führende Stimme in der politischen Bewegung „moralische Mehrheit“, in einem Beitrag für die Washington Post, daß konservative Christen „den Kulturkrieg verloren haben“. Sein Kommentar impliziert, daß Religion in Amerika auf nationaler Ebene kein starker oder entscheidender Einfluß mehr ist.

In seinem Buch The Transformation of American Religion: How We Actually Live Our Faith kommt der Soziologe Alan Wolfe zu dem Schluß, daß die Religion in Amerika im Mainstream der amerikanischen Popkultur aufgegangen ist. Nach Gesprächen mit vielen Christen und Besuchen in Gemeinden überall in den USA schreibt Wolfe: „In den Vereinigten Staaten hat die Kultur Christus verwandelt ... In jedem Aspekt religiösen Lebens ist der amerikanische Glaube der amerikanischen Kultur begegnet – und die Kultur hat triumphiert.“

Nach Wolfes Analyse meiden die schnell wachsenden evangelikalen Kirchen die Auseinandersetzung mit Doktrin, „weil sie neue Mitglieder anwerben möchten. Den traditionellen Kirchen mangelt es an Doktrin, weil sie an ihren Mitgliedern, deren Anzahl ohnehin schrumpft, festhalten möchten“ (Seite 87).

In einer Kultur, in der alles erlaubt ist, tun sich manche Christen schwer, klare Standpunkte zu vertreten. „Predigten über Hölle, Verdammnis und sogar Sünde“, so Wolfe, „sind durch die urteilsfreie Sprache des Verständnisses und des Mitgefühls ersetzt worden. Mehr Amerikaner als je zuvor nennen sich wiedergeborene Christen, aber der Herr, an den sie sich wenden, wird nur selten zornig und bestätigt oft das Selbstwertgefühl [seiner Nachfolger] ... Weit davon entfernt, eine Insel des Glaubens in der Gesellschaft zu sein, sind die Gläubigen in den Vereinigten Staaten in bemerkenswerter Weise allen anderen Menschen ähnlich“ (Seite 2-3).

So gesehen kann die „normative Wahrheit“ einer Generation eine ganz andere sein als die der Vorgänger- bzw. Nachfolgergeneration. Die Truppen, die es zu den Stränden der Normandie geschafft haben, hatten keinen reichlichen Vorrat an MTV-Videos und Pornofilmen, wie es nach den Worten des eingangs zitierten Predigers Colson im Bagdader Abu Ghraib Gefängnis der Fall gewesen sein soll.

Der Einfluß der heutigen Popkultur des Westens zeigt sich allerdings nicht nur bei einigen der Gefängniswärter in Bagdad. Bei denen, die einerseits – zu Recht – über die Photos der Soldatin Lynndie England entsetzt waren, die einen entblößten Iraker an einer Hundeleine führte, andererseits kein Wort über die 40 Millionen Amerikaner der letzten 30 Jahre verlieren, die wegen Abtreibung nie das Licht der Welt erblicken durften, läßt sich die Frage nach der „normativen Wahrheit“ ihrer unterschiedlichen Beurteilung stellen.

Wer soll denn die Moral bestimmen? Gibt es einen Schöpfergott, oder sind wir Menschen lediglich das Resultat eines „blinden“ evolutionären Zufalls? Gibt es ohne einen Schöpfergott überhaupt eine generationenüberspannende „normative Wahrheit“?