Erdogans Vision für die Türkei und Arabien

Die Taten und Worte des türkischen Ministerpräsidenten
Recep Erdogan zeugen von der unabhängigen Außenpolitik seines Landes. Welche Zukunft hat die Türkei?

Von Paul Kieffer

Es begann mit einer dramatischen Szene beim Weltwirtschaftsgipfel Anfang 2009 in Davos. Während einer Podiumsdiskussion über das israelische Vorgehen im Gazastreifen verließ der türkische Ministerpräsident Recep Erdogan die Bühne, nachdem man ihm zusätzliche Redezeit verwehrt hatte. Unmittelbar vor seinem Abgang hielt er dem israelischen Präsidenten Schimon Peres mit sichtlicher Verärgerung vor: „Aufs Töten versteht ihr euch!“

Zunächst meinten einige Beobachter, Erdogans schroffe Kritik über das israelische Vorgehen in Gaza sei lediglich ein momentaner Ausrutscher gewesen. Doch die nachfolgenden zwölf Monate zeigten, dass Erdogans Kommentar anscheinend eine grundlegende Veränderung der türkischen Außenpolitik gegenüber Israel darstellt.

Die scharfe Wortwahl setzte sich später fort, als Erdogan einen Gegenschlag „wie ein Erdbeben“ für den Fall versprach, dass Israels Luftwaffe bei einem Angriff auf den Iran den türkischen Luftraum verletzen sollte. Er sagte „Allahs Rache“ an Israel voraus.

Ein Jahr nach dem Zornausbruch in Davos drohte die türkische Regierung mit der Abberufung seines Botschafters in Tel Aviv. Die Abberufung wäre Erdogan zufolge eine angemessene Reaktion auf einen Affront des stellvertretenden israelischen Außenministers Danny Ayalon gewesen, der bei der Übergabe einer Protestnote den Handschlag mit dem türkischen Botschafter Ahmet Oguz Celikkol verweigert hatte. Israel hatte sich über die populäre türkische Fernsehserie „Tal der Wölfe“ beschwert, die in einer Folge die Entführung türkischer Kinder mit Bekehrungsversuchen zum Judentum durch israelische Geheimagenten zum Inhalt hatte.

Selbst bei der Beilegung des diplomatischen Konflikts beharrten beide Seiten auf ihrem Standpunkt. Ayalon erklärte zwar, dass er in Zukunft behutsamer vorgehen wollte, zog jedoch seine Kritik an der Türkei nicht zurück. Der israelische Premierminister Israeli Benjamin Netanjahu äußerte sich zufrieden über Ayalons Klärung der Angelegenheit, betonte aber dennoch, dass die Kritik gerechtfertigt gewesen war. Im Gegenzug wies das türkische Außenministerium in Ankara auf seine historische Verantwortung zur Mahnung Israels hin.

Vor dem Zwischenfall in Davos hatten die Türkei und Israel jahrelang enge diplomatische Beziehungen gepflegt und sogar im kleinen Rahmen gemeinsame Militärmanöver durchgeführt. Die Türkei schien auch ein potenzieller Vermittler bei zukünftigen Friedensbemühungen zwischen Israel und Syrien zu sein. Warum sollte die Türkei ihre Haltung gegenüber Israel ändern? Welche Bedeutung könnte diese Entwicklung für die Zukunft des Nahen Ostens haben?

Die ungewisse Zukunft der Türkei in Europa

Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Türkei ein loyaler Verbündeter des Westens. Türkische Soldaten kämpften mit anderen UNO-Truppen im Koreakrieg. Mit Spähanlagen überwachte die Türkei als NATO-Mitglied einen Teil des sowjetischen Luftraums. Die USA begrüßen Ankaras Wunsch nach einer Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union. 1963 wurde bereits zwischen der Türkei und der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein Assoziierungsabkommen geschlossen, das sogenannte „Ankara-Abkommen“. Als die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei 2005 begannen, hob Erdogan hervor, dass sich sein Land mit nichts weniger als einer EU-Vollmitgliedschaft zufriedengeben würde.

Doch die Beitrittsverhandlungen bewegen sich schleppend. Die EU erwartet eine Verfassungsreform in der Türkei, um das Eingreifen des Militärs in Staatsangelegenheiten auszuschließen, die Menschenrechtssituation zu verbessern und ethnischen Minderheiten mehr Rechte einzuräumen. Seit 2005 sind nur elf von 35 „Verhandlungskapiteln“ eröffnet worden. Davon ist bis jetzt nur eines provisorisch fertiggestellt worden.

Ein möglicher Knackpunkt bei den Verhandlungen ist die Haltung der Türkei in der Zypernfrage. Die Türken verwalten den Norden der Insel und lehnen die Souveränität der Republik Zypern im Süden ab. Doch die Republik Zypern ist Vollmitglied der Europäischen Union.

In einer diplomatischen Note, die im Juli 2005 in Ankara unterzeichnet wurde, erkannte die Türkei die Republik Zypern als Teil der europäischen Zollunion an. Damit wurde das letzte Hindernis für die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen aus dem Weg geräumt. Doch selbst nach der Aufnahme von Verhandlungen drei Monate später blieben türkische See- und Flughäfen für den direkten Handelsverkehr mit Zypern gesperrt. Damit verstößt die Türkei gegen das grundlegende Prinzip innerhalb der EU, wonach alle Mitgliedsstaaten sich gegenseitig anerkennen und keine Handelsbarrieren zulassen.

Ändert sich die türkische Position gegenüber Zypern nicht, würde eine Vollmitgliedschaft der Türkei der Preisgabe von Grundsatzprinzipien seitens der EU gleichkommen. Danach sieht es zurzeit nicht aus.

Selbst bei einem erfolgreichen Abschluss der Beitrittsverhandlungen müssen die jetzigen EU-Mitglieder dem Beitritt zustimmen. Mit Volksabstimmungen über diese Frage in mehr als einem EU-Land als Möglichkeit – Frankreich und die Niederlande sind zwei Beispiele – ist die Ratifizierung keineswegs sicher.

An dem Verhalten Europas gegenüber der Türkei erkennt man manchmal eine gewisse Zurückhaltung bzw. eine fehlende Beachtung des Landes. Als Beispiel dienen die vom französischen Präsidenten initiierten Beratungen zur Einrichtung einer Flugverbotszone in Libyen. Eingeladen waren diverse Mitgliedsländer der NATO, doch die Türkei mit dem zweitgrößten Heer der Allianz (nach den USA) blieb bei den Gesprächen außen vor.

Die Perspektive eines gescheiterten EU-Beitritts ist für manche Beobachter der Grund, warum die Außenpolitik der Türkei im Wandel begriffen ist. Im vergangenen Sommer warnte US-Präsident Barack Obama vor einer Neuorientierung der Türkei außerhalb des Westens für den Fall, dass die Beitrittsverhandlungen mit der EU nicht vorankommen.

In einem Interview mit der italienischen Zeitung Corriere della Serra meinte Obama, dass „das langsame Tempo [bei den Verhandlungen] bzw. die europäische Zurückhaltung nicht der einzige oder wichtigste Faktor hinter der kürzlich wahrgenommen Veränderung der türkischen Haltung sind. Doch sie werden die Sicht der Türken gegenüber Europa unausweichlich beeinflussen . . . Fühlen sie sich der europäischen Familie nicht zugehörig, ist es natürlich, dass sie sich anderswo nach Allianzen und Angliederung umsehen werden“ (von Reuters zitiert, 8. Juli 2010).

Die Bemühungen der Türkei um die arabische Welt

Vor dem Hintergrund eines ungewissen EU-Beitritts bemüht sich die Türkei zunehmend um ihre historische Einflusssphäre: die islamischen Länder Arabiens, von denen manche jahrhundertelang von den türkischen Osmanen beherrscht wurden. Erdogans Besuch im Januar 2011 am Persischen Golf lässt US-Präsident Obamas Kommentar vom vergangenen Juli fast prophetisch erscheinen.

Anlässlich einer Konferenz zu den türkisch-arabischen Beziehungen erinnerte Erdogan seine Zuhörer am 11. Januar 2011 in Kuwait daran, dass sich islamische Türken und Araber gemeinsam den christlichen Kreuzzügen widersetzt hätten. Er forderte die heutigen Nachkommen dieser Völker auf, ihre eigene Union zu bilden und die Zukunft des Nahen Ostens selbst zu bestimmen.

„Die Araber sind unsere Brüder und Schwestern . . . Ungeachtet der Meinung einiger werden wir weiterhin die Verbrüderung und Zusammenarbeit mit unseren arabischen Brüdern und Schwestern vertiefen . . . Wir werden den Regionen, mit denen wir seit Jahrhunderten Freundschaft und Verbrüderung teilen, nicht den Rücken zukehren. Unsere Union ist politisch, wirtschaftlich, kommerziell und kulturell. Wir sind Mitglieder der gleichen Zivilisation. Uns verbindet eine gemeinsame Geschichte, die wir gemeinsam geschrieben haben . . .

Durch Solidarität können wir das palästinensische Problem überwinden und das Leiden in Afghanistan und dem Irak beenden. Wir haben es nicht nötig, andere um Hilfe zu ersuchen. Vordergründig ist, dass wir unsere eigene Union etablieren. Wir können die Stabilität im Libanon stärken und Terroranschläge in Ägypten verhindern. Mittels Solidarität können wir die Armut in der Region überwinden“ („We Will Determine Our Own Foreign Policy, Turkish Premier Says“, The Journal of Turkish Weekly, 11. Januar 2011; Hervorhebung durch uns).

Mit offener Kritik an Israels Umgang mit den Palästinensern werden Erdogan und seine Regierung zunehmend populär unter der arabischen Bevölkerung des Nahen Ostens. „Als Kinder in Gaza massakriert wurden, fühlten wir ihren Schmerz, als würden unsere eigenen Kinder ein Massaker erleben. Jerusalems Problem ist unser Problem. Gazas Problem ist unser Problem“ (ebenda).

In der Tat sehen Analysten die Neuorientierung der türkischen Außenpolitik gegenüber Israel als Manöver mit Kalkül, womit die Türkei einen möglichen Führungsanspruch in der Region für die Zukunft legitimieren möchte. Erdogans Taktik scheint Erfolg zu haben. Er wurde für „seine Verdienste um den Islam“ mit dem saudischen „Internationalen König-Faisal-Preis“ geehrt, der als „Nobel-Friedenspreis“ der arabischen Welt gilt.

Die Türkei und eine arabische Konföderation

Die unabhängige Außenpolitik der Türkei tendiert in eine Richtung, die vor ca. 3000 Jahren in der Bibel vorhergesagt wurde. Psalm 83 enthält eine interessante Prophezeiung über viele Nationen des Nahen Ostens, die bisher noch unerfüllt ist und möglicherweise mit Endzeitereignissen im Zusammenhang steht. Wenn das zutrifft, dann wird eine Konföderation arabischer Nationen mit der Türkei vorhergesagt, die entschlossen ist, Israel zu vernichten.

„Sie machen listige Anschläge wider dein Volk und halten Rat wider die, die bei dir sich bergen. Wohlan! sprechen sie, lasst uns sie ausrotten, dass sie kein Volk mehr seien und des Namens Israel nicht mehr gedacht werde! Denn sie sind miteinander eins geworden und haben einen Bund wider dich gemacht: die in den Zelten von Edom und Ismael wohnen, Moab und die Hagariter, Gebal, Ammon und Amalek, die Philister mit denen von Tyrus; auch Assur hat sich zu ihnen geschlagen, sie helfen den Söhnen Lot“ (Psalm 83,4-9).

Diese Namen sind bedeutsam, wenn wir die Gegenden und Völker kennen, die in der Prophezeiung genannt werden. Edom bezieht sich sowohl auf die Palästinenser als auch auf manche Türken. Die Ismaeliten, die Nachkommen Ismaels, sind viele der arabischen Völker im Nahen Osten und Nordafrika. Moab ist die Gegend von Zentraljordanien. Mit den Hagaritern scheinen andere Nachkommen von Hagar, der Mutter Ismaels, gemeint zu sein.

Gebal, was „Berg“ oder „Begrenzung“ bedeutet, wird gewöhnlich mit der phönizischen Stadt Byblos gleichgesetzt, dem heutigen Jbeil im Libanon. Ammon bezieht sich auf das nördliche Jordanien in der Umgebung von Amman, der Hauptstadt (die ihren Namen von Ammon ableitet). Amalek scheint sich auf einen Zweig der edomitischen Palästinenser zu beziehen. Philister bezeichnet die Einwohner der Gegend im heute sogenannten Gazastreifen. In der Antike war Tyrus ein bedeutender Stadtstaat im südlichen Libanon entlang der Mittelmeerküste. Die „Söhne Lots“ bezieht sich auf Moab und Ammon – wiederum Regionen im modernen Jordanien.

Die arabische Einheit ließ lange auf sich warten, aber langsam bringt ein gemeinsames Ziel die unterschiedlichen Völker der arabischen Welt zusammen. Dieses gemeinsame Ziel ist der Wunsch, die Nation Israel und ihren Hauptunterstützer, die USA, zu zerstören, zusammen mit der liberalen Kultur des Westens, die schon lange als eine Bedrohung für die islamische Lebensweise angesehen wird. Edom, dessen Nachkommen auch in der heutigen Türkei leben, wird in Psalm 83 an erster Stelle erwähnt und scheint daher eine führende Rolle bei der Erfüllung dieser Prophezeiung zu spielen.

Die Türkei und die Europäische Union

Eine weitere Nation, die in Psalm 83 erwähnt wird, ist Assur. Geographisch gesehen befindet sich Assyrien dort, wo heute der nördliche Irak ist. Mit Assur scheinen jedoch Einwohner von Zentraleuropa gemeint zu sein, „deren Vorfahren vom Kaukasus und den Ländern am Schwarzen und Kaspischen Meer nach Europa gewandert sind“ (Smith’s Smaller Classical Dictionary, 1940, Seite 226).

Hunderte von Jahren vor Christus sagte der hebräische Prophet Daniel Ereignisse im Nahen Osten und in Europa voraus. Seine Prophezeiungen wurden im Buch der Offenbarung ergänzt, als der Apostel Johannes kurz vor dem Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. eine prophetische Botschaft von Jesus Christus erhielt.

Die Prophezeiungen, die diese Männer niedergeschrieben haben, sagen den Aufstieg einer in Europa beheimateten Weltmacht in der Zeit unmittelbar vor der Wiederkehr Jesu Christi, bei der Jesus das Reich Gottes als Weltregierung etablieren wird, voraus. Johannes wurde offenbart, dass diese europäische Supermacht eine Union von zehn Führern sein wird, die verschiedene Länder vertreten (Offenbarung 17,12-14).

Allem Anschein nach findet mit der Europäischen Union eine Entwicklung statt, die zu diesem letzten Bündnis führen wird. Die Grundlage dafür entsteht vor unseren Augen, und die Prophezeiung in Psalm 83 scheint auf eine Zusammenarbeit zwischen dieser zukünftigen Weltmacht und den Ländern des Nahen Ostens beim Widerstand gegen Israel hinzuweisen.

Was passiert aber, wenn die Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union scheitern? Wäre damit die Möglichkeit einer außenpolitischen Zusammenarbeit verhindert? Nicht unbedingt, denn eine strategische Allianz auf der Basis einer „privilegierten Partnerschaft“ wäre dann immer noch möglich.

Gündüz Aktan, der Ankara bei diversen diplomatischen Aufgaben vertreten hat und an dem Verfassen des türkischen EU-Beitrittsgesuchs beteiligt war, stellte schon vor Beginn der Beitrittsverhandlungen die Frage, ob eine EU-Vollmitgliedschaft für sein Land die beste Option wäre.

„Die Beitrittsverhandlungen können 20 Jahre dauern, eine privilegierte Partnerschaft könnte dagegen unverzüglich entschieden werden. Die Türkei muss dabei nicht auf spätere volle Mitgliedschaft verzichten. Die Türkei erhielte Stimmrecht im Komitee der europäischen Verteidigungsminister.

Als privilegierter Partner würde die Türkei fast soviel finanzielle Hilfe erhalten wie als Vollmitglied, ohne gezwungen zu sein, vielen EU-Standards zu entsprechen, die die Preise für viele Produkte steigen lassen würden“ (Die Welt, 8. Juni 2005).

Bei Aktans Kommentar blieb der wichtigste Aspekt unerwähnt. Da die Türkei bereits bekannt gegeben hat, dass sie als Resultat der laufenden Beitrittsverhandlungen nur eine Vollmitgliedschaft akzeptieren wird, würde eine von der Europäischen Union angebotene „privilegierte Partnerschaft“ abgelehnt werden.

Das Result wäre eine auf Jahre hinaus belastete Beziehung zwischen der Türkei und der EU. Wenn die Türkei hingegen sein Beitrittsgesuch einseitig zurückziehen würde – vielleicht als Maßnahme, um das Gesicht zu wahren –, könnte sie das Angebot einer „privilegierten Partnerschaft“ annehmen und gute Beziehungen zu Europa pflegen.

Trotz der Spannungen zurzeit bei der noch ungeklärten Frage einer türkischen EU-Vollmitgliedschaft wird die Türkei in der Zukunft ein wichtiges Land für Europa sein. Sie ist eine Brücke vom abendländischen Europa nach Asien und verbindet zwei diverse Regionen. Als wichtiger Teil einer zukünftigen Konföderation muslimischer Länder kann die Türkei ein Bindeglied zwischen dem islamischen Nahen Osten und dem christlichen Europa sein.

Welche Motivation haben islamische Fundamentalisten?

In ihrem Buch Islam stellt die Historikerin Karen Armstrong Folgendes zum islamischen Fundamentalismus fest: „Am Ende des 20. Jahrhunderts hatten einige Muslime zum ersten Mal heilige Gewalt zu einer grundlegenden islamischen Pflicht erhoben. Diese Fundamentalisten bezeichnen westlichen Kolonialismus und postkolonialen westlichen Imperialismus als al-Salibiyyah: den Kreuzzug“ (Seite 180).

Dieser Begriff ist für Muslime bewusst gewählt, erinnert er doch an die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen dem mittelalterlichen Christentum und dem Islam vor fast 1000 Jahren, als europäische Heere sich anschickten, die „heiligen“ Stätten des Christentums aus der Gewalt des Islams zu befreien. Dabei wurden schreckliche Gräueltaten verübt. Armstrong meint allerdings: „Der koloniale Kreuzzug ist zwar weniger gewaltsam gewesen, aber seine Auswirkungen waren verheerender als die mittelalterlichen Kreuzzüge.“

Die kulturellen Werte des Westens haben großen Einfluss auf alle Länder der Welt und werden deshalb von vielen Menschen verachtet. Karen Armstrong fährt fort: „Weltweit stellen wir fest, dass Menschen aus allen wichtigen Religionen unter dem Einfluss des westlichen Modernismus taumeln. Dabei entsteht die häufig intolerante Religiosität, die wir Fundamentalismus nennen“ (Hervorhebung durch uns).

Fundamentalistische Bewegungen beschränken sich nicht allein auf den Islam, noch gibt es nur zwischen dem Christentum und dem Islam religiöse Konflikte. Das vorwiegend hinduistische Indien hat wiederholt gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen fundamentalistischen Hindus und Muslimen erlebt. Konflikte zwischen Christen und Muslimen sind jedoch in den letzten vierzehn Jahrhunderten ein beständiges Thema gewesen. Heute flammt dieser Konflikt immer wieder dort auf, wo es Christen und fundamentalistische Islamisten gibt, z. B. in Afrika und Indonesien.

Selbst in islamischen Ländern gibt es Spannungen zwischen Fundamentalisten und gemäßigten Politikern. In keinem islamischen Land dürfen christliche Missionare ungehindert tätig sein, noch ist Christen die freie Einreise bzw. Einbürgerung erlaubt. Islamische Länder bleiben so garantiert islamisch. Zum Vergleich: Seit dem Zweiten Weltkrieg haben westliche Länder Einwanderer aus islamischen Ländern aufgenommen. In Zukunft mögen wachsende islamische Minderheiten in diesen Ländern die Bemühungen der dortigen Regierungen erschweren, mit dem Problem des islamischen Fundamentalismus fertig zu werden.

In einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs (Ausgabe November-Dezember 1998) kommentierte Bernard Lewis, Professor für den Bereich Mittlerer Osten an der Universität Princeton (USA), die Motivation islamischer Fundamentalisten folgendermaßen: „Die klassischen arabischen Historiker berichten uns, dass [im Jahr 641 n. Chr.] der Kalif Umar die Ausweisung von Juden und Christen aus Arabien ausrief, um einen Aufruf des Propheten auf seinem Sterbebett zu erfüllen: ,Lass keine zwei Religionen in Arabien sein.‘ Die davon Betroffenen waren die Juden der Oase Khaybar im Norden und die Christen im südlichen Najran.

Die Vertreibung religiöser Minderheiten kommt in der islamischen Geschichte ganz selten vor, anders als beim mittelalterlichen Christentum, bei dem die Ausweisung von Juden und Muslimen normal war und häufig vorkam . . . Der Aufruf war aber endgültig und unumkehrbar, und bis heute ist der Zutritt zum heiligen Land der Hijaz [die Region um Mekka, Medina und gelegentlich ganz Saudi-Arabien] für Nicht-Muslime verboten . . . Wenn es um ihr heiliges Land geht, neigen viele Muslime dazu, den Kampf – und gelegentlich auch den Feind – im religiösen Sinne zu definieren. Dabei sieht man die amerikanischen Truppen, die zur Befreiung Kuwaits und zum Schutz Saudi Arabiens vor Saddam Hussein entsandt wurden, als ungläubige Invasoren und Besatzer. Diese Sichtweise wird durch Amerikas unangefochtene Vormachtstellung unter den nichtmuslimischen Ländern begünstigt.

Drei Jahre vor den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon kam Professor Lewis in seinem Artikel zu folgendem Schluss: „Manche Muslime sind bereit, [eine] extreme Auslegung ihrer Religion zu billigen, und einige sind bereit, sie anzuwenden. Der Terrorismus braucht nur wenige Ausführende. Freilich muss sich der Westen durch wirksame Abwehrmaßnahmen verteidigen. Bei der Ausarbeitung von Strategien zur Bekämpfung der Terroristen wäre es jedoch bestimmt hilfreich, ihre Motivation zu verstehen.“