Die andere „neue Rechtschreibung“

Von der Redaktion

Anfang Oktober lieferte die Frankfurter Buchmesse eine Gelegenheit für achtzehn Autoren aus mehreren europäischen Ländern, ihre Kritik an der Reform der Schreibweise der deutschen Sprache zu erneuern. Zur gleichen Zeit meinte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, „am Regelwerk und in den Wörterbüchern ist unaufhörlich geändert und ,verbessert‘ worden, und noch immer sind viele Fragen offen“ (6. Oktober 2003). Um ihre Sichtweise zu untermauern, führten die FAZ-Autoren Vergleiche aus den letzten Ausgaben des Duden und des Wahrig Wörterbuchs an.

Vor dem Hintergrund der Trends in unserer modernen Gesellschaft üben wir ebenfalls Kritik an einer „neuen Rechtschreibung“, in diesem Fall in bezug auf die Definition des Wortes Heterosexualität. Kam das Wort im Großen Duden des Jahres 1939 überhaupt nicht vor, so wurde es in der 18. Ausgabe des Duden (1980) als „normales, auf das andere Geschlecht gerichtetes Empfinden im Gegensatz zur Homosexualität“ definiert. Das Wahrig Deutsche Wörterbuch des Jahres 1968 las sich ähnlich: „Andersgeschlechtlichkeit, (normales) Empfinden für das andere Geschlecht; Ggs.: Homosexualität“.

Jahre vor der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung gab es bereits eine „neue Rechtschreibung“, zumindest für die Definition des Wortes Heterosexualität. Folgende Definition steht beispielsweise in der 20. Ausgabe des Duden aus dem Jahr 1991: „auf das andere Geschlecht gerichtetes Empfinden im Ggs. zur Homosexualität“. Im Wahrig Wörterbuch stellt man ebenfalls fest, daß die Definition des Wortes Heterosexualität um dasselbe Wort gekürzt wurde: normal.

In der neuen Definition ist also das „auf das andere Geschlecht gerichtete Empfinden“ nicht länger normal. Freilich geben die Autoren unserer Wörterbücher mit ihren Definitionen in diesem Fall lediglich das geänderte gesellschaftliche Empfinden wieder. Die Auswirkungen dieser anderen „neuen Rechtschreibung“ sind jedoch viel weitreichender als die der amtlich verordneten neuen Schreibweise der deutschen Sprache.

Ein ähnliches Beispiel gibt es für den Begriff Familie, dessen Definition in der heutigen westlichen Welt anders ist als vor 50 Jahren. Soll die UNO-Menschenrechtserklärung von 1948 mit ihrer Forderung nach Schutz der Familie auch modernen Familien mit „zwei Vätern [oder] zwei Müttern“ gelten (New York Post, 8. Mai 2001)? Den Verfassern dieser Erklärung wären solche modernen Familien als „natürliche Grundeinheit der Gesellschaft“ wohl nicht in den Sinn gekommen.

In unserem Sprachgebrauch basiert dieser Wandel auf der Ablehnung von Verhaltensmaßstäben, die für alle Menschen in allen Zeiten gelten. Den Erfinder dieser „Moral auf Zeit“ sieht die US-amerikanische Sozialkritikerin Gertrud Himmelfarb in dem Philosophen Friedrich Nietzsche. „Der ,Tod‘ Gottes“, so Himmelfarb, „bedeutete auch den Tod der Moralität und der Wahrheit – besonders der moralischen Wahrheit ... Alle moralischen Vorstellungen beziehen sich [nur] auf spezifische Personen und Gesellschaften“ (The De-Moralization of Society, Alfred A. Knopf, New York, 1995, Seite 10-11).

Für diese Art „Rechtschreibreform“ ist daher leider kein Ende in Sicht. Wie wir vor mehr als einem Jahr vorausgesagt haben, bahnt sich bereits eine weitere Neudefinition an: Was heißt demnächst Embryonenschutz?